Auszug aus Kafka, „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ – als Beispiel für die psychoanalytische Interpretation (Mat2398-aes)

Neue Herausforderung für unser „Beyond-the-books-Team“

 

Stellen wir uns vor, da wird den Schülis ein Auszug aus einem Werk von Kafka gegeben – und sie sollen ihn „psychoanalytisch“ interpretieren.

Das heißt: Ergebnisse von Forschern wie Sigmund Freund und seinen Nachfolgern sollen berücksichtigt werden.

Schritt 1: Was könnte in dem Textauszug eine Rolle spielen?

Zentrale Begriffe und Phänomene der Psychoanalyse – hilfreich bei der Interpretation Kafkas

Diese Übersicht fasst zentrale Begriffe und psychodynamische Phänomene zusammen, die in der psychoanalytischen Interpretation literarischer Texte – insbesondere bei Franz Kafka – eine wichtige Rolle spielen können. Sie dient als Orientierungshilfe für Unterricht, Analyse und eigenständige Deutungen.

1. Strukturmodell der Psyche (Freud)

Ich: Vermittelt zwischen Triebansprüchen, Moral und Realität
– Es: Sitz unbewusster Triebe und Wünsche
– Über-Ich: Verinnerlichte moralische Instanz (Eltern, Gesellschaft)

2. Zentrale Konzepte

– Ödipuskomplex: Familiäre Konflikte und Begehren, meist im Vater-Sohn-Konflikt erkennbar
– Schuldgefühl: Nicht immer an konkrete Taten gebunden, sondern tief verankert im Selbstbild
– Strafbedürfnis: Wunsch nach Selbstbestrafung, oft masochistisch konnotiert
– Abwehrmechanismen: Strategien zur Vermeidung psychischer Konflikte (Verdrängung, Projektion, Rationalisierung, etc.)
– Dissoziation: Spaltung von Erleben oder Handlungseinheiten (z. B. Trennung von Ich und Körper bei Kafka)
– Regression: Rückzug auf frühere psychische Entwicklungsstufen
– Identitätsdiffusion: Unsicheres oder zersplittertes Selbstbild (z. B. Figuren mit instabiler Identität)

3. Entwicklungstheoretische Konzepte

– Orale Phase: Bedürfnis nach Bindung, Verschmelzung, Aufnahme (symbolisch: Essen, Saugen, Abhängigkeit)
– Anale Phase: Kontrolle, Ordnung, Trotz – auch Symbol für Machtkonflikte
– Narzissmus: Selbstliebe und Selbstentwertung im Wechsel
– Borderline-Dynamik: Nähe-Distanz-Konflikte, Angst vor Auflösung der Ich-Grenzen

4. Weitere relevante Phänomene

– Symboldeutung: Körper, Räume, Tiere oder Wege als Ausdruck innerer Konflikte
– Traumlogik: Texte als inszenierte Träume mit verschobener und verdichteter Bedeutung
– Wiederholungszwang: Immer neue Varianten eines ungelösten inneren Konflikts
– Unheimliches (Freud): Etwas scheinbar Vertrautes wird fremd und beunruhigend – typisch für Kafka

5. Methodische Hinweise

– Keine vorschnellen Deutungen: Psychoanalytische Lesarten bleiben immer hypothetisch
– Biografische Bezüge mit Vorsicht nutzen: Sie können hilfreich sein, aber sind keine Beweise
– Vieldeutigkeit zulassen: Die psychoanalytische Perspektive ergänzt andere Deutungsansätze – sie ersetzt sie nicht.

Diese Übersicht eignet sich als Grundlage für vertiefende Interpretationen im Unterricht oder bei der wissenschaftlich fundierten Beschäftigung mit Kafkas Werk.

Schritt 2: Textauszug

Wir haben hier erst mal den Textauszug in der vorgelegten Form hereingezogen – in kursiver Schrift, um den Zitatcharakter deutlich zu machen.

Die Zerlegung in nummerierte Abschnitte dient der  leichteren Kommunikation, da wir hier auf Zeilennummern verzichten.

Es geht zunächst um die Vorbereitung der späteren ausformulierten Interpretation. Wir zeigen jeweils eingerückt in blauer Schrift, welche psychoanalytischen Elemente wir gefunden haben und was wir daraus für Schlüsse ziehen.

  1. „Er stellte den mit gewürfelten Tuch vernähten Handkoffer nieder und beugte sich die Knie ein. Schon ran das Regenwasser an der Kante der Fahrbahn in Streifen, die sich zu den tiefer gelegenen Kanälen fast spannten.
    […]
  2. Ich bin sogar zu müde, um ohne Anstrengung den Weg zum Bahnhof zu gehn, der doch kurz ist.
    • Analyse:
      Das Über-Ich sagt dem Ich-Erzähler, was er tun soll.
    • Das „Es“ als Sitz unbewusster Triebe und Wünsch bäumt sich dagegen auf – durch eine versteckte Anstrengung, die zu Müdigkeit führt.
    • Das Ich vermittelt zwischen diesen beiden Ebenen, indem das Problem „rationalisiert“  wird. Das heißt, es in Überlegungen gepackt, die an die wahren  Probleme nicht rangehen. Stattdessen Feststellung der eigenen Müdigkeit und Verwunderung, dass sie so extrem und hinderlich ist.
    • Fazit: Der Mensch wird sich der wirklichen Situation in sich selbst nicht bewusst, sondern bleibt an der Oberfläche der Wahrnehmung und der Verwunderung. Das ist ja die erste Stufe der Erkenntnis, bringt selbst aber nichts, wenn es nicht weitergeht.
    • Man könnte hier auch das Folgende sehen:
      – Abwehrmechanismen: Strategien zur Vermeidung psychischer Konflikte (Verdrängung, Projektion, Rationalisierung, etc.)
  3. Warum bleibe ich also diese kleinen Ferien über, nicht in der Stadt, um mich zu erholen?
  4. Ich bin doch unvernünftig. Die Reise wird mich krank machen, ich weiß es wohl. Mein Zimmer wird nicht genügend bequem sein, das ist auf dem Land nicht anders möglich. Kaum sind wir auch in der ersten Hälfte des Juni, die Luft auf dem Lande ist oft noch sehr kühl. Zwar bin ich vorsichtig gekleidet, aber ich werde mich selbst Leuten anschließen müssen, die spät am Abend spazieren. Es sind dort Teiche, man wird entlang der Teiche spazierengehn. Da werde ich mich sicher erkälten. Dagegen werde ich mich bei den Gesprächen wenig hervortun. Ich werde den Teich nicht mit andern Teichen in einem entfernten Land vergleichen können, denn ich bin nie gereist, und um vom Mond zu reden und Seligkeit zu empfinden und schwärmend auf Schutthaufen zu steigen, dazu bin ich doch zu alt, um nicht ausgelacht zu werden.‹
    […]

    • Hier kann man das Folgende feststellen: Der Ich-Erzähler wundert sich über sein Verhalten. Das entspricht also nicht dem, was er eigentlich möchte. Hier hat man natürlich auch wieder den Konflikt zwischen Über-Ich, Es und dem Ich, das bei Kafka irritiert und hilflos dazwischen steht.
      Man kann auch das Folgende heranziehen.
      – Identitätsdiffusion: Unsicheres oder zersplittertes Selbstbild (z. B. Figuren mit instabiler Identität)
  5. Er mußte tiefer atmen; eine Uhr auf einem nahen Platz in der Tiefe schlug ein Viertel auf fünf, er sah unter dem Schirm die leichten kurzen Schritte der Leute, die ihm entgegen kamen, gebremste Wagenräder knirschten, sich langsamer drehend, die Pferde streckten ihre dünnen Vorderbeine, gewagt wie Gemsen im Gebirge.
    • Hier haben wir wieder:
      – Abwehrmechanismen: Strategien zur Vermeidung psychischer Konflikte (Verdrängung, Projektion, Rationalisierung, etc.)
      In diesem Falle ist es vor allem Verdrängung. Statt sich den unangenehmen Gedanken hinzugeben, konzentriert man sich auf Beobachtungen, die einen ablenken und damit entlasten.
      Die Feststellung:
      „Ich musste tiefer atmen“ zeigt wieder, dass hier Körper und Geist im Widerspruch sind, er Erholung braucht.
  6. Da schien es Raban er werde auch noch die lange schlimme Zeit der nächsten vierzehn Tage überstehn. Denn es sind nur vierzehn Tage, also eine begrenzte Zeit, und wenn auch die Ärgernisse immer größer werden, so vermindert sich doch die Zeit, während welcher man sie ertragen muß. Daher wächst der Mut ohne Zweifel.
    • Auch hier wieder:
    • – Abwehrmechanismen: Strategien zur Vermeidung psychischer Konflikte (Verdrängung, Projektion, Rationalisierung, etc.)
    • Aber hier eher im Sinne von Projektion, man stellt sich eine andere Entwicklung vor, die angenehmer ist. Außerdem wird „rationalisiert“, d.h. man macht sich Gedanken, mit denen man nur ein Symptom bekämpft, aber nicht an die Ursachen herangeht.
  7. ›Alle, die mich quälen wollen und die jetzt den ganzen Raum um mich besetzt haben, werden ganz allmählich durch den gütigen Ablauf dieser Tage zurückgedrängt, ohne daß ich ihnen auch nur im geringsten helfen müßte.
    • Hier geht es im gleichen Stil weiter – mit der seltsamsten Erklärung: Jetzt ist es irgendeine Art Güte, die sich im Tagesablauf zeigen wird – und schon fantasiert sich der Ich-Erzähler eine angenehme Entwicklung zurecht.
  8. Und ich kann, wie es sich als natürlich ergeben wird, schwach und still sein und alles mit mir ausführen lassen und doch muß alles gut werden, nur durch die verfließenden Tage.
    • Hier wiederholt sich das gleiche Schema.
  9. Und überdies kann ich es nicht machen, wie ich es immer als Kind bei gefährlichen Geschäften machte? Ich brauche nicht einmal selbst aufs Land fahren, das ist nicht nötig. Ich schicke meinen angekleideten Körper. Wankt er zur Tür meines Zimmers hinaus, so zeigt das Wanken nicht Furcht, sondern seine Nichtigkeit. Es ist auch nicht Aufregung, wenn er über die Treppe stolpert, wenn er schluchzend aufs Land fährt und weinend dort sein Nachtmahl ißt.
    • Hier eine Kombination von zwei Kennzeichen:
      – Dissoziation: Spaltung von Erleben oder Handlungseinheiten (z. B. Trennung von Ich und Körper bei Kafka)
      und
      Regression: Rückzug auf frühere psychische Entwicklungsstufen
  10. Denn ich, ich liege inzwischen in meinem Bett, glatt zugedeckt mit gelbbrauner Decke, ausgesetzt der Luft, die durch das wenig geöffnete Zimmer weht.
    • Hier wieder Flucht in die Fantasie, bei der alles gut und angenehm wird.
  11. Die Wagen und Leute auf der Gasse fahren und gehen zögernd auf blankem Boden, denn ich träume noch. Kutscher und Spaziergänger sind schüchtern und jeden Schritt, den sie vorwärts wollen, erbitten sie von mir, indem sie mich ansehn. Ich ermuntere sie, sie finden kein Hindernis.
    • Hier wird es ganz extrem, denn zur Fantasie kommt noch eine Art Hochstilisierung. Im völligen Gegensatz zur Realität ist man in diesem Tagtraum mächtig und man kann herrscherliche Großmut zeigen.
    • Falls man sich da zufällig auskennt: Das war die Methode der Selbst-Beweihräucherung, die der Abenteuerschriftsteller Karl May verwendete. Daraus entstanden dann Helden wie Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi – die  auf eine gutmütige, aber machtvolle Weise auf andere Leute herabblicken konnten.
  12. Ich habe, wie ich im Bett liege, die Gestalt eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers, glaube ich.‹ […] Eines Käfers große Gestalt, ja.
  13. Ich stellte es dann so an, als handle es sich um einen Winterschlaf, und ich preßte meine Beinchen an meinen gebauchten Leib.
  14. Und ich lisple eine kleine Zahl Worte, das sind Anordnungen an meinen traurigen Körper, der knapp bei mir steht und gebeugt ist.
  15. Bald bin ich fertig – er verbeugt sich, er geht flüchtig und alles wird er aufs beste vollführen, während ich ruhe.‹“
    • Hier am Ende wird alles zusammengeführt: Die eigene Misere wird mit Blick auf den Körper zwar anerkannt, aber er ist getrennt vom herrscherlichen Ich, das „Anordnungen“ erteilt.
    • Das „Gebeugt“-Sein wird ausgelagert von sich selbst zu diesem nach außen gegangenen Körper.
    • Dann die Rückkehr zur Kombination von Sieg auf der ganzen Linie, ohne dass man selbst kämpfen musste.

Quelle: Franz Kafka: Gesammelte Werke. Band 7, Frankfurt a.M. 1950 ff., S. 7-26.

Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005132843

Schritt 3: Zusammenfassung

Der Textauszug zeigt einen innerlich zerrissenen Erzähler, der vor einer Reise zu seiner Verlobten steht. Statt Vorfreude dominiert Vermeidung. Psychodynamisch lässt sich das Verhalten durch verschiedene Konzepte aus der Psychoanalyse erklären:

  • Verdrängung und Rationalisierung als Mittel zur inneren Konfliktabwehr
  • Dissoziation: Trennung von Körper und Ich – das Ich zieht sich in eine passive Beobachterrolle zurück
  • Regression: Rückzug in frühere, kindliche Bewältigungsmuster
  • Fantasien der Kontrolle (Omnipotenz), um Ohnmacht auszugleichen
  • Symbolische Käferverwandlung als Ausdruck von Selbstentfremdung und Rückzug

Diese Mechanismen zeigen sich im Umgang mit einer als bedrohlich erlebten Situation: der bevorstehenden Verbindlichkeit in einer Beziehung. Statt sich aktiv auf die Reise zu machen, spaltet der Erzähler seine Wirklichkeit und lebt in Tagträumen weiter. So wird eine innerpsychische Krise sichtbar, die auch auf tiefere Themen wie Selbstbild, Beziehungsangst und Kontrollverlust verweist.

Schritt 4: Ausformulierte  Interpretation

Die haben wir ausgelagert – sie ist hier zu finden:
https://schnell-durchblicken.de/interpretation-eines-auszugs-aus-kafka-hochzeitsvorbereitungen-auf-dem-lande-mit-blick-auf-die-psychoanalytischen-bezuege

Möglichkeit der Kontaktaufnahme

Ohne persönliche Angaben – auch die E-Mail-Adresse ist nicht  nötig, wenn auch hilfreich.

Fragen und Anregungen können auf dieser Seite abgelegt werden:
https://textaussage.de/schnelle-hilfe-bei-aufgaben-im-deutschunterricht

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