Barthold Heinrich Brockes, „Einleitung“ (Mat9443)

Barthold Heinrich Brockes

Einleitung

  1. Wenn iemand irgendswo in einer Höhle,
  2. Allwo desselben Sinn und Seele
  3. Von aller Creatur und allem Vorwurf leer,
  4. In steter Dämmerung erzogen wär;
  5. Und trät‘ auf einmal in die Welt,
  6. Zumal zur holden Frühlings-Zeit,
  7. Und sähe dann der Sonnen Herrlichkeit,
  8. Und säh‘ ein grün beblühmtes Feld,
  9. Und sähe dick bebüschte Hügel,
  10. Und sähe reiner Bäche Spiegel,
  11. Durch einen Schatten-reichen Wald,
  12. Mit seiner sich drin spiegelnden Gestalt,
  13. Umkränzt mit glatten Binsen, fliessen,
  14. Und sähe Flüsse sich ergiessen,
  15. Auch ihrer Bürger schuppicht Heer;
  16. Und säh‘ ein unumschränktes Meer,
  17. Und sähe bunte Gärten prangen,
  18. Auch, wann die Sonn‘ erst untergangen,
  19. Der Abend-Röte güldne Pracht;
  20. Und säh‘ in einer heitern Nacht
  21. Den Wunder-schönen Sternen-Himmel;
  22. Zusamt den Silber-reinen Glantz
  23. Der Schatten-Sonne, wenn sie gantz;
  24. Und hört‘ ein zwitscherndes Getümmel
  25. Der Singe-Vögel, und den Schall
  26. Der angenehmen Nachtigall,
  27. In Luft- und Schatten-reichen Büschen,
  28. Sich mit dem sanften Rauschen mischen,
  29. Und hört‘, auf rauh- und glatten Kieseln,
  30. Geschwinde Bäche murmelnd rieseln;
  31. Und schmeckte tausend süsse Früchte,
  32. Und schmeckte vielerlei Gerichte,
  33. Die Wasser, Luft und Erde geben;
  34. Und schmeckte, voller Geist und Kraft,
  35. Den säurlich-süssen Tranck und Saft
  36. Der lieblichen Tockayer-Reben;
  37. Und röche Bluhmen mancher Arten,
  38. In Feldern, Wäldern und im Garten;
  39. Und röch‘ auf Bergen und im Thal
  40. Gesunde Kräuter ohne Zahl;
  41. Und röche balsamirte Düfte;
  42. Und fühlte sanfte laue Lüfte,
  43. Und fühlte Wunder-süsse Triebe
  44. Von einer zugelaßnen Liebe;
  45. Und fühlte mit vergnügter Brust,
  46. Des süssen Schlafes sanfte Lust;
  47. Und fühlte, wann der Schlaf vorbei,
  48. Daß er dadurch gestärcket sey,
  49. Um alles, was so Wunder-schön,
  50. Aufs neue wiederum zu sehn.
  • Der ganze erste Teil besteht aus einer gigantischen Wenn-Konstruktion.
  • Nach dem Motto: Stellen wir uns mal vor, dass da jemand bisher nur in einer dunklen Höhle gelebt hat
  • Und entdeckt plötzlich die Wunder einer bunten Welt.
  • Man wird erinnert an Platos Höhlengleichnis – auch wenn das in eine andere Richtung geht.
  • Es passt vom Aufbau auch zu Kafkas Erzählung „Auf der Galerie“.
  1. Auf welche sonderbare Weise
  2. Würd‘ er sich nicht darob ergetzen!
  3. Würd‘ er sich nicht halb selig schätzen?
  4. Er bliebe ganz gewiß dabei,
  5. Dass er, aufs mindst‘ im Paradiese,
  6. Wo nicht schon gar im Himmel se.
  • Hier dann die kurz ausfallende Konsequenz des Wenn-Spiels.
  • Der betreffende Mensch würde sich „selig schätzen“
  • Und glauben, in einer Art Paradies zu sein.
  1. Und wir, die alle diese Gaben
  2. Unstreitig um und an uns haben,
  3. Empfindens minder, als ein Stein;
  4. Ja machen uns, an deren Stelle,
  5. Das Paradeis fast selbst zur Hölle.
  6. Was mag daran wohl Ursach sein?
    • Am Ende dann eine Art Parabelschluss.
    • Eine Beispielgeschichte ist durchgespielt worden,
    • um uns Menschen klar zu machen,
    • dass wir uns falsch verhalten,
    • wenn wir uns nicht auf ähnliche Weise in einem irdischen Paradies fühlen.

Quelle: Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 1-3,8-9.

Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004602897

Anregung:

  • Auch hier lohnt es sich, bei sich selbst mal durchzuspielen
  • und sich einen Menschen vorzustellen, dem es nicht so gut geht wie einem selbst.
  • Ziel dabei ist letztlich, dass man sich sich nicht einfach an all das Schöne, Gute Bequeme gewöhnt, das um einen ist,
  • sondern zumindest dankbar ist dafür.
  • Die Frage ist nur, ob das in der Realität funktioniert
    oder ob nicht einfach die 50-Zeilen-Situation im ersten Teil des Gedichtes fehlt.

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