Barthold Heinrich Brockes
Einleitung
- Wenn iemand irgendswo in einer Höhle,
- Allwo desselben Sinn und Seele
- Von aller Creatur und allem Vorwurf leer,
- In steter Dämmerung erzogen wär;
- Und trät‘ auf einmal in die Welt,
- Zumal zur holden Frühlings-Zeit,
- Und sähe dann der Sonnen Herrlichkeit,
- Und säh‘ ein grün beblühmtes Feld,
- Und sähe dick bebüschte Hügel,
- Und sähe reiner Bäche Spiegel,
- Durch einen Schatten-reichen Wald,
- Mit seiner sich drin spiegelnden Gestalt,
- Umkränzt mit glatten Binsen, fliessen,
- Und sähe Flüsse sich ergiessen,
- Auch ihrer Bürger schuppicht Heer;
- Und säh‘ ein unumschränktes Meer,
- Und sähe bunte Gärten prangen,
- Auch, wann die Sonn‘ erst untergangen,
- Der Abend-Röte güldne Pracht;
- Und säh‘ in einer heitern Nacht
- Den Wunder-schönen Sternen-Himmel;
- Zusamt den Silber-reinen Glantz
- Der Schatten-Sonne, wenn sie gantz;
- Und hört‘ ein zwitscherndes Getümmel
- Der Singe-Vögel, und den Schall
- Der angenehmen Nachtigall,
- In Luft- und Schatten-reichen Büschen,
- Sich mit dem sanften Rauschen mischen,
- Und hört‘, auf rauh- und glatten Kieseln,
- Geschwinde Bäche murmelnd rieseln;
- Und schmeckte tausend süsse Früchte,
- Und schmeckte vielerlei Gerichte,
- Die Wasser, Luft und Erde geben;
- Und schmeckte, voller Geist und Kraft,
- Den säurlich-süssen Tranck und Saft
- Der lieblichen Tockayer-Reben;
- Und röche Bluhmen mancher Arten,
- In Feldern, Wäldern und im Garten;
- Und röch‘ auf Bergen und im Thal
- Gesunde Kräuter ohne Zahl;
- Und röche balsamirte Düfte;
- Und fühlte sanfte laue Lüfte,
- Und fühlte Wunder-süsse Triebe
- Von einer zugelaßnen Liebe;
- Und fühlte mit vergnügter Brust,
- Des süssen Schlafes sanfte Lust;
- Und fühlte, wann der Schlaf vorbei,
- Daß er dadurch gestärcket sey,
- Um alles, was so Wunder-schön,
- Aufs neue wiederum zu sehn.
- Der ganze erste Teil besteht aus einer gigantischen Wenn-Konstruktion.
- Nach dem Motto: Stellen wir uns mal vor, dass da jemand bisher nur in einer dunklen Höhle gelebt hat
- Und entdeckt plötzlich die Wunder einer bunten Welt.
- Man wird erinnert an Platos Höhlengleichnis – auch wenn das in eine andere Richtung geht.
- Es passt vom Aufbau auch zu Kafkas Erzählung „Auf der Galerie“.
- Auf welche sonderbare Weise
- Würd‘ er sich nicht darob ergetzen!
- Würd‘ er sich nicht halb selig schätzen?
- Er bliebe ganz gewiß dabei,
- Dass er, aufs mindst‘ im Paradiese,
- Wo nicht schon gar im Himmel se.
- Hier dann die kurz ausfallende Konsequenz des Wenn-Spiels.
- Der betreffende Mensch würde sich „selig schätzen“
- Und glauben, in einer Art Paradies zu sein.
- Und wir, die alle diese Gaben
- Unstreitig um und an uns haben,
- Empfindens minder, als ein Stein;
- Ja machen uns, an deren Stelle,
- Das Paradeis fast selbst zur Hölle.
- Was mag daran wohl Ursach sein?
- Am Ende dann eine Art Parabelschluss.
- Eine Beispielgeschichte ist durchgespielt worden,
- um uns Menschen klar zu machen,
- dass wir uns falsch verhalten,
- wenn wir uns nicht auf ähnliche Weise in einem irdischen Paradies fühlen.
Quelle: Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 1-3,8-9.
Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004602897
Anregung:
- Auch hier lohnt es sich, bei sich selbst mal durchzuspielen
- und sich einen Menschen vorzustellen, dem es nicht so gut geht wie einem selbst.
- Ziel dabei ist letztlich, dass man sich sich nicht einfach an all das Schöne, Gute Bequeme gewöhnt, das um einen ist,
- sondern zumindest dankbar ist dafür.
— - Die Frage ist nur, ob das in der Realität funktioniert
oder ob nicht einfach die 50-Zeilen-Situation im ersten Teil des Gedichtes fehlt.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Gedichte der Aufklärung – kurz vorgestellt
https://textaussage.de/gedichte-der-aufklaerung-ueberblick-und-beispiele - Infos, Tipps und Materialien zur deutschen Literaturgeschichte
https://textaussage.de/deutsche-literaturgeschichte-themenseite
—
- Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos