Böll, „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ – eine Kurzgeschichte? Oder was? (Mat2183)

Worum es hier geht:

Wir zeigen, dass es nicht immer eindeutige Ergebnisse gibt, wenn man nach der Gattung einer Erzählung fragt.

Zur Frage, was diese Erzählung eigentlich ist, gibt es auch ein Video, das auf Youtube hier zu finden ist:
Videolink

 https://youtu.be/e2UfTkLhZGA

Die Dokumentation zum Video kann hier heruntergeladen werden:

Auf den ersten Blick scheint die „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ eine Kurzgeschichte zu sein. Aber wenn man genauer hinschaut, wird es schwierig.

1. Kurz ist die Geschichte.
2. Aber der Einstieg ist nicht so direkt, wie man das aus anderen Kurzgeschichten kennt. Das hätte dann so beginnen können: „Sie waren lange unterwegs gewiesen. Der Chef hatte ihm kurz vor dem Rausgehen noch einige Dinge ans Herz gelegt, die unbedingt erledigt werden mussten. Aber jetzt endlich sah er mit klopfendem Herzen das Meer. Als er es sich am Strand gemütlich gemacht hatte, fiel ihm auf, dass da ein Einheimischer neben seinem Fischerboot genauso in der Sonne lag wie er. Hatte der nichts zu tu?“ usw.
3. Auch das Ende ist nicht wirklich offen, denn die Moral der Geschichte wird ja direkt mitgeteilt.
4. Von daher taucht die Frage auf, ob es sich nicht eigentlich um eine Parabel handelt, auch wenn die natürlich etwas anders eingeleitet werden müsste – so im Stil des Herrn K.: „Als Herr K gefragt wurde, was im Leben wirklich wichtig ist, erzählte er folgende Geschichte…“
5. Insgesamt also etwas zwischen Kurzgeschichte und Parabel.
6. Aber was ist denn mit der „Anekdote“? Nun bei der geht es ja meistens um eine Absonderlichkeit, die aber durchaus etwas Typisches zeigen kann, meistens bezogen auf wichtige Persönlichkeiten. Aber hier geht es ja auch um etwas Wichtiges, nämlich die Lehre, die einem übereifrigen Touristen von einem Einheimischen erteilt wird. Das hat ein bisschen was von Hebels Kalendergeschichten.
7. Insgesamt also ein typisches Beispiel dafür, dass Gattungsbestimmungen nichts sind als Hilfsmittel, um Texte zu verstehen und einzuordnen, aber alle diese Schubladen-Zuordnungen können im Einzelfall auch wunderbar scheitern. Denn kaum ein Schriftsteller setzt sich hin und sagt sich, ich schreibe jetzt mal diese oder jene Gattung. Und wenn sie das tun, wie Ulla Hahn in ihrem wunderbaren Gedicht: „Ein anständiges Sonett“ – dann kann man sicher sein, dass es am Ende alles andere ist als die Erfüllung einer Auftragsarbeit.
   https://www.lyrikline.org/de/gedichte/anstaendiges-sonett-10714