Clemens Brentano, „Nun soll ich in die Fremde ziehen“ (Mat1710)

Worum es hier geht:

Das folgende Gedicht zeigt, wie es einem Menschen geht, der in die Fremde ziehen muss, was mit vielen unguten Gefühlen verbunden ist.

Clemens Brentano

[Nun soll ich in die Fremde ziehen]

Strophe 1
01 Nun soll ich in die Fremde ziehen
02 Mir hatte eine Himmelsbraut
03 Ein Zweiglein aus dem Kranz geliehen
04 Ich hatte draus ein Haus erbaut
05 Es grünte schon, es wollte blühen
06 Von meiner Tränennut betaut
07 Da konnt‘ ich betend ruhig knieen
08 Da hatte ich so fest vertraut
09 Und soll nun in die Fremde ziehen.

  • Das Gedicht beginnt mit einer Feststellung, der man eine gewisse Überraschung abspürt. Das lyrische Ich scheint verwundert zu sein, dass ihm so etwas zustößt.
  • Im weiteren Verlauf wird dann deutlich, was diese notwendige Entfernung aus der vertrauten Welt verursacht hat:
  • Er spricht einiges dafür, dass mit der „Himmelsbraut“ ein Mensch gemeint ist, mit dem man ein Haus gebaut hat, also eine dauerhafte  gemeinsame Zukunft aufbauen wollte.
  • Das Problem scheint gewesen zu sein, dass hier nur ein zwei „Zweiglein aus dem Kranz geliehen“ worden ist, also die Bereitschaft der anderen Seite, diesen Weg mitzugehen, nicht in gleicher Weise gegeben war.•    Es bleibt offen, ob sich das lyrische Ich hier nur etwas vorgemacht hat oder ob die andere Seite am Anfang mehr verheißen hat, als sie dann einlösen wollte.
  • Auf jeden Fall scheint das lyrische Ich selbst voll davon überzeugt zu sein, dass eigentlich alles da gewesen ist für eine gemeinsame Zukunft, was sich dann aber nicht einlösen ließ.
  • Das lyrische Ich beschreibt dann, was es selbst alles getan hat, um die gemeinsame Sache zum Erfolg zu führen, und stellt am Ende dann noch einmal resignierend fest, dass alles nichts genutzt hat und es jetzt neue Wege gehen muss.

Strophe 2
10 Nun soll ich in die Fremde ziehen
11 Sie wäre ruhig, wär‘ ich fort,
12 Der Tempel, wo wir beide knieen,
13 Soll nun zerbrechen und der Ort
14 Wohin ich mit ihr sollte ziehen
15 Soll nun verschwinden und der Hort
16 Des einen Glücks, für das wir glühen,
17 Soll sinken, auf ein hartes Wort
18 Soll ich nun in die Fremde ziehen.

  • Die zweite Strophe bestätigt, dass es hier um eine zerbrochene Beziehung geht.
  • Die Zeile 11 kann verstanden werden als indirekte Wiedergabe einer entsprechenden Aufforderung zu gehen.
  • Die nächsten Zeilen machen dann die Enttäuschung des lyrischen Ichs noch einmal besonders deutlich, indem sie das noch einmal ansprechen, was möglich gewesen wäre, und es dann vergleichen mit dem, was jetzt eben zerstört ist.
  • Die Zeile 17 deutet an, dass zumindest auch „ein hartes Wort“ zum Zerbrechen der Beziehung geführt hat.
  • Wenn man zufällig den Roman „Homo Faber“ von Max Frisch kennt, dann wird man hier möglicherweise erinnert an die Reaktion des männlichen Erzählers, der auf die Eröffnung seiner Freundin, dass sie schwanger ist, nur die Frage als Antwort findet: Und was machen wir jetzt mit deinem Kind?
    Es ist verständlich, dass eine solche Reaktion jeden Bodfen für eine gemeinsame Zukunft zerstört.
  • Im Gedicht von Brentano bleibt offen, von wem dieses harte Wort ausgesprochen worden ist.
  • Auf jeden Fall kann man schon mal festhalten, dass dies Gedicht unter anderem auch deutlich macht oder zumindest andeutet, dass Äußerungen eben auch Handlungen sein können, die entsprechende Reaktionen auslösen.

Strophe 3
19 Nun soll ich in die Fremde ziehen
20 Ich der die Heimat nie gekannt,
21 Soll meine erste Heimat fliehen
22 Soll fallen in der Räuber Hand
23 Was Sie mir schenkte war geliehen
24 Streng fodert sie das heil’ge Pfand
25 Zu ihr hab‘ ich um Hülf‘ geschrieen,
26 Sie weist mich nach dem andern Land
27 Ich soll nun in die Fremde ziehen.

  • In der dritten Strophe präsentiert sich das lyrische Ich als eine Art Loser, der „die Heimat nie gekannt“ hat, und dessen Hoffnung, in der Gemeinsamkeit erstmals eine Heimat zu finden, jetzt enttäuscht worden ist.
  • Es folgt in Zeile 22 der etwas rätselhafte Hinweis auf eine mögliche Gefahr durch Räuber.
  • Das passt zu Zeile 25, in der es ganz ausdrücklich heißt, dass dem lyrischen Ich anscheinend auch Hilfe verweigert worden ist.
  • Worum es dabei geht, bleibt offen.
  • Die Zeilen 23 und 24 zeigen die Härte, mit der die andere Seite die Beziehung auflöst.
  • Man wird ihr erinnert an die Praxis der Verlobungsgeschenke, die bei eine Auflösung des Verhältnisses auch zurückgegeben werden müssen.
  • Zeile 26 konkretisiert, was dem lyrischen Ich bevorsteht, nämlich offensichtlich eine Art erzwungen Auswanderung.

Strophe 4
28 Nun soll ich in die Fremde ziehen,
29 Ich weiß wohl, wie die Fremde tut
30 Kein Ankergrund ist mir gediehen
31 Weil ich dem ungerechten Gut
32 Auf meinem Schiffe Schutz verliehen
33 Zerbrach es in des Sturmes Wut
34 Die Woge hat mich ausgespieen,
35 Und kaum hab‘ ich am Strand geruht
36 Soll ich schon in die Fremde ziehen.

  • Die vierte Strophe deutet an, was das lyrische Ich offensichtlich unter der Fremde versteht.
  • Es scheint eine Wiederholung und wohl auch Intensivierung der Heimatlosigkeit zu sein aus der heraus es gestartet ist.
  • Interessant ist das Bild, das hier verwendet wird, um die jetzt zerbrochene Beziehung näher zu charakterisieren.
  • Es geht um das Bild eines Schiffes, wobei das lyrische Ich sich hier selbst jetzt plötzlich als Schiffer, als Herr des Schiffes sieht, der einem anderen Schutz gewährt hat.
  • Am Ende läuft es aber doch auf dasselbe wieder hinaus, weil dieses „ungerechte Gut“, das aufgenommen worden ist, zum Untergang des Schiffes führt.
  • Gemeint sein könnte das ungerechtfertigte Vertrauen, das in die andere Seite gesetzt worden ist.
  • Am Ende hat man dann allerdings den Eindruck, dass das Bild des Schiffbruchs sich auf eine Zeit vor der Beziehung mit der „Himmelsbraut“ bezieht und das Zerbrechen der Beziehung mit ihr nun als zweite Katastrophe begriffen wird, bei der eine vermeintliche Rettung ins Gegenteil verkehrt wird

Strophe 5
37 Nun soll ich in die Fremde ziehen
38 Wohin, wohin, daß Gott erbarm‘,
39 Nicht, wo die Friedensrosen blühen,
40 Nicht, wo im Geist so sonnenwarm
41 Die Worte wie Gebete glühen
42 Nein in die Brust – den Wespenschwarm
43 Vergeblicher erstarrter Mühen
44 Ins eigne Herz, zum eignen Harm
45 Soll ich nun in die Fremde ziehen.

  • Die letzte Strophe wendet sich dann den Zukunftserwartungen zu, der Frage, wohin man gehen oder kommen könnte.
  • Gleich am Anfang wird schon deutlich gemacht, dass hier nur Elend erwartet wird, bei dem man nur noch auf das Erbarmen Gottes hoffen kann.
  • Es folgen zwei Vorstellungen, die vor allem zerstörte Hoffnungen präsentieren.
  • Ab Zeile 42 wird dann formuliert, was das lyrische ich in der Fremde erwartet, nämlich einen Wespenschwarm vergeblich erstarrter Mühen.
  • Das kann so verstanden werden, dass es um die schmerzliche Erinnerung an all das geht, was das lyrische Ich meint, im Rahmen seines Hausbaus getan zu haben und das jetzt nicht belohnt wird.
  • Die Schlussvorstellung ist dann, dass das lyrische Ich glaubt, nur noch auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, was offensichtlich nur mit der Vorstellung von Leid verbunden werden kann.
  • Hier wird noch einmal deutlich, wie wenig Lebenserfahrung und Selbstbewusstsein dieses lyrische Ich hat, wie wenig es auch offensichtlich Unterstützung in einem sozialen Umfeld nutzen kann.

Das Gedicht zeigt:

  1. … wie es einem Menschen geht, der viel in eine Beziehung investiert hat oder zumindest glaubt, das getan zu haben,
  2. und dann erfahren muss, dass sie auf eine Weise beendet wird, die er selbst nur als Vertreibung verstehen kann.
  3. Deutlich wird, wie schon angedeutet worden ist, dass dieses lyrische Ich offensichtlich schlechte persönliche Entwicklungsvoraussetzungen mitbringt
  4. und das aktuelle Scheitern jetzt als eine Verstärkung mit ungewissem Ausgang erlebt.

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