„Corpus delicti“ als moderner Roman (Mat2260)

Worum es hier geht:

Wir gehen an die Frage auf einem scheinbaren Umweg heran:

  • Zunächst beschäftigen wir uns mit dem Phänomen „moderner Roman“ allgemein,
  • dann zeigen wir, dass sogar Fontanes „Effi Briest“ aus dem 19. Jhdt schon Züge des Modernen trägt,
  • bevor wir uns dann auf „Corpus delicti“ konzentrieren.

  • Um 1900 herum setzt sich immer mehr etwas durch, was man die „Moderne“ nennt.
  • Gemeint ist damit, dass die gesamte Tradition, die in vielen Fällen auf Vorbildern und mehr oder weniger klaren Vorgaben aufbaute, auch mehr und mehr in Frage gestellt wird, sich zum Teil sogar auflöst
  • und auf vielfältige Weise versucht wird, einer immer komplexeren und unsichereren Realität gerecht zu werden.
  • Typisch für diese Moderne ist der Expressionismus, mit seinem Versuch, die gefühlte Wirklichkeit auf völlig neue und zum Teil provozierende Weise darzustellen. Interessant dabei, dass die Form vieler expressionistischer Gedichte noch traditionellen Reim- und Rhythmusvorgaben entsprach.
  • Einer der berühmtesten ersten modernen Romane ist „Berlin Alexanderplatz“ (1929)
    Eine gute Übersicht gibt es auf der Seite:
    https://dewiki.de/Lexikon/Berlin_Alexanderplatz_(Roman)#Antichronologisches_und_simultanes_Erz%C3%A4hlen
  • Da ist zunächst einmal ein Held aus der Unterschicht, der am Ende auch noch scheitert.
  • Auch die Einbeziehung von Prostituierten wäre in früheren Zeiten kaum möglich gewesen.
  • Verzichtet wird auf auch auf eine eindeutig lineare Handlung.
  • Ohne Hemmungen wird mit Elementen der anerkannten Hochliteratur gespielt.
  • Dazu kommt das Element der Montage – einschließlich der Einbeziehung von Statistiken und Schlagertexten.
  • Eine einheitliche Erzählhaltung gibt es nicht: Da wird zwischen auktorialen und personalen Passagen gewechselt.
  • Die Sprache verfügt über verschiedene Ebenen – wozu auch Slang und Dialekte gehören.

„Effi Briest“ ein „traditioneller Roman“ mit durchaus schon modernen Zügen
  • Als Gegenbeispiel könnte man „Effi Briest“ von Fontane nehmen:
  • Auch dort scheitert die junge Heldin, wird Opfer der Heiratsvorstellungen ihrer Eltern und eines Ehemannes, der ihr zwar Bildungserlebnisse verschafft, aber wenig Glückserlebnisse.
  • Insgesamt wird der Roman aber chronologisch erzählt,
  • lässt vieles aus, was den damaligen Lesern nicht zugemutet werden sollte – etwa Probleme der Hochzeitsnacht einer wohl noch unaufgeklären jungen Frau oder am Ende des Todes von Effi.
  • Interessant am Ende die Relativierung der Schuldfrage in der Schlussformel von Vater Briest, das ein ein „weites Feld“.
  • Man sieht deutlich, dass die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse sehr viel strenger und auch eindeutiger waren, aber Leiden und Scheitern war auch in diesen Zeiten und in diesen Romanen schon möglich.
  • Allerdings wurde sehr viel gleichförmiger, zurückhaltender erzählt, als es dann in der Moderne möglich und praktiziert wurde.

Warnung vor einer „ideologischen“ Herangehensweise an literarische Phänomene
  • Aufpassen muss man, dass die Unterscheidung zwischen traditionellem und modernem Roman nicht zu „ideologisch“
    (vgl. Max Frisch: „Du sollst dir kein Bildnis machen!“)
    wird, d.h. an festen Vorstellungen orientiert festgemacht wird, die die literarischen Wirklichkeit so nicht standhalten:
  • Im modernen Roman muss es keineswegs einen gebrochenen Helden geben. Walter Faber in Max Frischs „Homo Faber“ ist jemand, der an sich und seinen Vorurteilen leidet, aber er findet am Ende zu sich und kann fast schon getrost sterben.
  • Der Held im modernen Roman muss kein orientierungsloser Woyzeck sein, der getrieben wird und sich treiben lässt – da werden anscheinend Vorstellungen aus der Theaterwelt auf die des Epischen übertragen. Dabei wird übersehen, dass Veränderungen im Theater zum Teil viel radikaler erfolgt sind.
  • Natürlich wird das technische Weltbild Walter Fabers „desillusioniert“, aber in eine bessere, menschlichere Richtung.
  • Unumstößliche Gewissheiten mögen im traditionellen Roman – vor allem im Hinblick auf die Religion gegolten  haben, aber bei den Eltern Briest werden sie doch gerade in Frage gestellt.
  • „Transzendentale Obdachlosigkeit“ gibt es sicher bei Kafka, aber das muss nicht immer Thema sein.
  • Von daher plädieren wir dafür, solche Kennzeichen-Zuweisungen nur als Orientierungspunkte zu verwenden und im übrigens sich den jeweiligen Romanen selbst zuzuwenden.

Wie sieht es nun in „Corpus delicti“ aus mit der Modernität?

Wie sieht es nun in „Corpus delicti“ aus?

  • Leider ist der Roman sehr modern, was das Gesellschaftskonzept angeht. Dort wird ja gerade versucht, wie im Kommunismus ein Paradies auf Erden zu schaffen, wobei alle Individualität und Schicksalsmächtigkeit des Lebens verloren gehen.
  • Modern ist der Roman sicher auch, wenn die Helden scheitern, erst Moritz, dann Mia und ein zynischer Indifferenzler wie Kramer behält die Oberhand.
  • Auch spielt der Roman durchaus auf sehr moderne Art und Weise mit dem Schrecklichen, wenn Kramer etwa Mia nach der Folter „auferwecken“ will oder er ihren letzten Wunsch nach einer Zigarette zum Entsetzen des anwesenden Richters und Protokollanten elegant erfüllt.
  • Überhaupt dieser Kramer, eine absolut schillernde und damit sehr moderne Figur.
  • Der Aufbau ist auch eher modern: Fast wie im modernen Theater werden erzählte Bilder in den Kapiteln nebeneinandergestellt. Am interessantesten montiert sind sicher die beiden zeitlich auseinander liegenden, aber inhaltlich zusammengehörenden Verhaftungskapitel.
  • Ansonsten aber ein durchaus traditionell erzählter Roman mit einem Erzähler, der durchaus kommentiert und den Leser durch ein vertrautes „Wir“ in das Erzählte wie in den Prozess des Erzählens einbezieht.
  • Insgesamt ist es einfach schön zu sehen, wie Juli Zeh keinen Roman für die Checklisten des Deutschunterrichts schreibt, sondern sie erspielt sich sprachlich eine Welt, in der sie Figuren zum Leben erweckt und Probleme und Konflikte Wirklichkeit werden lässt – so wie es für sie und ihre Ideen passt.
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