Dürrenmatt, „Die Physiker“: S. 68-71: Wie arbeitet man Positionen aus einer Dramenszene heraus? (Mat2437)

Theaterstück – Positionen herausarbeiten – Beispiel: Dürrenmatt, „Die Physiker“: S. 68-71

Hierzu gibt es inzwischen ein Video, das hier aufgerufen werden kann:
https://youtu.be/vqTn0qXzPo0

Die Dokumentation zum Video kann hier angeschaut oder heruntergeladen werden.

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  • Im Folgenden soll gezeigt werden, wie man aus einer Dramenszene die Positionen der beteiligten Figuren herausarbeitet.
  • Es geht um einen Ausschnitt aus dem II. Akt, in dem die drei Physiker ihre Einstellung zur aktuellen Situation deutlich machen.
  • Diese Situation ist dadurch bestimmt,
  • dass einer von ihnen – Möbius – freiwillig in der Anstalt ist, weil er glaubt, dass dort seine neuen Erfindungen sicher sind. Und zwar sicher vor Missbrauch, denn mit ihnen können auch gefährliche Dinge angestellt werden.
  • Außerdem sind in der Klinik zwei andere Physiker, die zugleich Geheimagenten von zwei großen Mächten sind. Ihre Aufgabe ist es, Möbius seine Geheimnisse zu entlocken und ihn in den eigenen Herrschaftsbereich zu entführen.
  • Ernst Heinrich Ernesti, der behauptet, Einstein zu sein, arbeitet für eine östliche Macht,
  • Herbert Georg Beutler, der behauptet, Newton zu sein, arbeitet für eine westliche Macht.
  • Weil alle drei jeweils eine Krankenschwester getötet haben, um ihre Geheimnisse zu bewahren, werden sie jetzt von starken Männern bewacht und müssen sich damit abfinden, dass sie erst mal gefangen sind.

Auswertung des Gesprächsverlaufs als Basis für eine systematische Auswertung

Einstein: schlägt angesichts der Gefangenschaft vor, „gemeinsam“ vorzugehen (68).

  • Möbius überrascht alle mit der Erklärung: „Ich will ja gar nicht fliehen. […] Ich finde nicht den geringsten Grund dazu. Im Ge genteil. Ich bin mit meinem Schicksal zufrieden.“ (68)
  • Da ist Newton aber ganz anderer Meinung:
  • „Doch ich bin nicht damit zufrieden, ein ziemlich entscheidender Umstand, finden Sie nicht? Ihre persönlichen Gefühle in Ehren, aber Sie sind ein Genie und als solches Allgemeingut. Sie drangen in neue Gebiete der Physik vor. Aber Sie haben die Wissenschaft nicht gepachtet. Sie haben die Pflicht, die Türe auch uns aufzuschließen, den Nicht-Genialen.
  • Kommen Sie mit mir, in einem Jahr stecken wir Sie in einen Frack, transportieren Sie nach Stockholm, und Sie erhalten den Nobelpreis.“
  • Hier rückt also Newton mit seiner Wahrheit raus: Es scheint ihm gar nicht in erster Linie um sein persönliches Schicksal zu gehen, sondern er sieht in Möbius und seinen Forschungsergebnissen ein „Allgemeingut“, das aber in  seinem Land entwickelt bzw. genutzt werden soll. Ziel ist der Nobelpreis, allerdings zeigt die Formulierung mit dem Frack nicht viel Achtung vor Möbius als Wissenschaftler und Mensch.
  • Möbius antwortet ironisch: „Ihr Geheimdienst ist uneigennützig.“
  • Newton versteht das dann auch gleich, geht aber nicht genau auf das Problem ein, sondern formuliert einfach mal konkreter das Interesse seines Landes: „Ich gebe zu, Möbius, daß ihn vor allem die Vermutung beeindruckt. Sie hätten das Problem der Gravitation gelöst.“
  • Möbius gesteht das ganz offen ein.
  • Einstein ist darüber erstaunt: „Das sagen Sie so seelenruhig?“
  • Möbius geht auch darauf gar nicht ein, sondern stellt nur eine hier ziemlich unsinnige Gegenfrage: „Wie soll ich es denn sonst sagen?“
  • Einstein geht auch darauf wieder nicht ein, sondern bringt plötzlich wie vorher Newton das spezielle Interesse seines Landes ein.
    „Mein Geheimdienst glaubte. Sie würden die ein- heitliche Theorie der Elementarteilchen.“
  • Auch hier zeigt sich wieder das Selbstbewusstsein von Möbius: „Auch Ihren Geheimdienst kann ich beruhigen. Die einheitliche Feldtheorie ist gefunden.“
  • Newton reagiert auf dieses Missverhältnis von Größe des Erreichten und dem lockeren Umgang damit körpersprachlich, indem ihm regelrecht der Schweiß ausbricht und nur noch wiederholen kann: „Die Weltformel.“
  • Endlich weist Einstein – allerdings auch mit Schweißausbruch – auf das Kuriose der Situation hin: „Zum Lachen. Da versuchen Horden gut besoldeter Physiker in riesigen staatlichen Laboratorien seit Jahren vergeblich in der Physik weiterzukommen, und Sie erledigen das en passant im Irrenhaus am Schreibtisch.“
  • Als Newton jetzt noch nach dem „System aller Erfindungen“ fragt, setzt Möbius noch einen drauf:
  • „Gibt es auch.
  • Ich stellte es aus Neugierde auf, als praktisches Kompendium zu meinen theoretischen Arbeiten.
  • Soll ich den Unschuldigen spielen?
  • Was wir denken, hat seine Folgen.
  • Es war meine Pflicht, die Auswirkungen zu studieren, die meine Feldtheorie und meine Gravitationslehre haben würden.
  • Das Resultat ist verheerend.
  • Neue, unvorstellbare Energien würden freigesetzt und eine Technik ermöglicht, die jeder Phantasie spottet, falls meine Untersuchung in die Hände der Menschen fiele. „
  • Hier verbindet sich die äußerliche Gelassenheit mit der großen Sorge dieses außergewöhnlichen Physikers, dass nämlich seine Erfindungen in die falschen Hände fallen könnten und dann missbraucht würden.
  • Die beiden anderen sind der Meinung, dass sich das nicht vermeiden ließe und wollen nur dafür sorgen, dass die eigene Macht dabei im Vorteil ist.
  • Newton denkt dabei eher an die „Gemeinschaft der Physiker“, die den Nutzen haben soll – aber das dürfte nur die westliche Variante der Ausnutzung sein. Allerdings geht er darauf nicht offen ein, sondern tut so, als könne über die Ausnutzung durch die Menschen entschieden werden:
    „Es geht um die Freiheit unserer Wissenschaft und um nichts weiter. Wir haben Pionierarbeit zu leisten und nichts außerdem. Ob die Menschheit den Weg zu gehen versteht, den wir ihr bahnen, ist ihre Sache, nicht die unsrige.“
  • Einstein denkt nur an den eigenen „Generalstab“ als Zentrum der Macht in seinem Land. Auf das Freiheitsgerde Newtons antwortet er nur spöttisch, dann könne der ja auch zu ihm überlaufen, denn:
    „Auch wir können es uns schon längst nicht mehr leisten, die Physiker zu bevormunden. Auch wir brauchen Resultate. Auch unser politisches System muß der Wissenschaft aus der Hand fressen.“
  • Dann geht es um die Frage des Umgangs mit Möbius:
  • Newton will wohl eher um Möbius werben: „Unsere beiden politischen Systeme, Eisler, müssen jetzt vor allem Möbius aus der Hand fressen.“
  • Eisler setzt cool auf Gewalt, allerdings vorerst noch gemeinsam ausgeübte: „Im Gegenteil. Er wird uns gehorchen müssen. Wir beide halten ihn schließlich in Schach.“
  • Newon glaubt das nicht: „Wirklich? Wir beide halten wohl mehr uns in Schach. Unsere Geheimdienste sind leider auf die gleiche Idee gekommen. Geht Möbius mit Ihnen, kann ich nichts dagegen tun, weil Sie es verhindern würden. Und Sie wären hilflos, wenn sich Möbius zu meinen Gunsten entschlösse. Er kann hier wählen, nicht wir.“

Systematische Zusammenfassung der Positionen

Nachdem man den Verlauf der Auseinandersetzung geklärt hat, kann man sich um Systematisierung bemühen:

  1. Beide Agenten sind unter Druck (brauchen „Resultate“), weil sie ja im Auftrag unterwegs ist – und angesichts der Größe des Einsatzes bricht ihnen regelrecht der Schweiß aus.
  2. Newton tut zumindest so, als ginge es um die Freiheit der Wissenschaft und könne Möbius in seinem Land ungestört und mit persönlichem Erfolg (Nobelpreis) arbeiten. Auch tut er so, als könne die Menschheit am Ende entscheiden, was mit den Forschungsergebnissen geschieht. Einstein nennt ihn „Ästhet“, in Wirklichkeit meint er wohl Moralist, Menschenfreund.
    Letztlich will er Möbius entscheiden lassen.
  3. Einstein ist der kühlere, weniger menschenfreundliche der beiden Agenten, ihm geht es eher um Macht als um Freiheit. Er glaubt auch nicht daran, dass die Forschungsergebnisse nicht genutzt werden.
    Im Unterschied zu Newton ist Einstein auch bereit, Gewalt anzuwenden, was schließlich zu einer Art Zweikampf der beiden Agenten mit versteckten Revolvern führen könnte.
  4. Möbius
  • zeigt erstaunlich viel Selbstbewusstsein, tut so, als wäre alles so nebenbei erfunden worden.
  • Aber auch er steht unter einem gewissen Druck, nämlich der Angst, dass seine Entdeckungen missbraucht werden.
  • Ansonsten hat er die besseren Karten, weil er alles entdeckt hat, was entdeckt werden kann. Er kann wählen, wie es am Ende heißt. Außerdem durchschaut er die beiden Agenten und bleibt misstrauisch, was ihre Erklärungen und damit auch Versprechungen angeht.
  • Außerdem meint er gut vorgesorgt zu haben, was die Manuskripte angeht: „Ich habe sie verbrannt.“

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