Ernst Schur, „Heimat“ – auch in der Stadt gibt es sie (Mat4008-sph )

Worum es hier geht:

Wir stellen hier von Ernst Schur ein Gedicht mit der Überschrift „Heimat“ vor. Es erkennt an, dass die Menschen, die dort beengt und in nicht immer guten Umständen leben, trotzdem auch ihre Umgebung als Heimat verstehen.

Entstanden ist es 1905, also in einer Zeit, in der die neuen Großstädte eher als Problem gesehen wurden, natürlich vor allem für die einfachen Menschen. Der Verfasser lebte von 1876 bis 1912 und seine Werke stehen zwischen Naturalismus und Expressionismus.

Eine Position, die in der aktuellen Migrationsdebatte häufig zu kurz kommt, wenn nicht anerkannt wird, dass hier  Menschen ihre Heimat verlassen – und verständlicherweise auch wohl vermissen. Das wird aber anscheinend wenig thematisiert. Es geht eher um die Perspektive der aufnehmenden Bevölkerung.

Gefunden haben wir das Gedicht hier.

Wir wollen an diesem Gedicht zeigen, wie man es schnell und sicher verstehen kann.

  1. Dazu gehört, dass man es in einem ersten Durchgang einfach liest – und dabei auf wichtige Elemente achtet, die eine Richtung anzeigen.
    Hier kann man schon versuchen, die einzelnen „Strophen“ bzw. Versgruppen inhaltlich zusammenzufassen – indem man beschreibt, was das lyrische Ich da eigentlich präsentiert.
  2. Hinterher überlegt man sich, was das Gedicht insgesamt deutlich macht.
    Man kann dabei einfach den Satz fortsetzen:
    Das Gedicht zeigt …
  3. Dann kann man schauen, welche besonderen sprachlichen u.a. Mittel im Gedicht die Aussagen unterstreichen.
  4. Schließlich ist da noch die Frage, was man heute noch mit diesem Gedicht anfangen kann.

Ernst Schur

Heimat

  1. Heimat!
  2. Ist Heimat nur Dorf und Land?
  3. Nur die kleinen Städte?
  • Inhaltsbeschreibung:
    • In den ersten drei Zeilen stellt das lyrische Ich eine Frage.
    • Man hat den Eindruck, dass es hier darum geht, dass eben nicht nur „Dorf“ oder „Land“ oder nur „die kleinen Städte“ heimat sein können, sondern auch – unausgesprochen – die Großstädte, die um 1900 eher negativ gesehen wurden.
  1. Auch über dem Meer der Mietkasernen
  2. wölbt sich der Nachthimmel mit all den Sternen.
  3. Tausende funkeln auch hier und die Milchstrasse
  4. spannt ihren Bogen.
  5. Ein Meer von Häusern duckt sich darunter
  6. wie Schafe, die in der Hürde zittern
  7. und Lichtern leuchten aus den Stuben
  8. der guten, kleinen Menschen,
  9. überall sind sie am Werk. Ein rastlos Gewimmel.
  10. Wie Bienenfleiss. Wie Ameisenrennen
  11. unter dem unendlichen ruhigen Himmel.
  • Inhaltsbeschreibung
    • Die Zeilen 4-14 machen deutlich, dass auch ein „Meer von Mietskasernen“ einen Himmel über sich haben
    • für die „guten, kleinen Menschen“.
    • Hervorgehoben wird vor allem ihr Fleiß und damit ihr Beitrag zum Wohlergehen auch einer großen Stadt.
  1. Gibt es nur ein Zurück?
  2. – Zu Dorf und Land?
  3. Gibt es nur eine Flucht?
  4. – Zu den kleinen Städten?
  5. Es gibt grössere Zusammenhänge!
  6. Es gibt grössere Organismen!
  7. Weit wie der Himmel!
  8. Und stark wie die Welt!
  • Inhaltsbeschreibung
    • In dieser Versgruppe wird die Frage gestellt und negativ beantwortet, ob es für die Menschen in der Großstadt nur ein Zurück aufs Land und ins Dorf gibt.
    • Hervorgehoben wird, dass eine große Stadt auch „grössere Zusammenhänge“ und „grössere Organismen“ im Angebot hat – und für Weite und Weltläufigkeit steht.
  1. Die kennen dich nicht,
  2. Die der Zufall hierherführt
  3. Wie der achtlose Wind ein Blatt verweht.
  • Inhaltsbeschreibung
    • Hier wird deutlich, was in der Großstadt zunächst ein Problem ist:
      Es gibt Menschen, die zufällig in die Großstadt geraten – ohne Verwurzelung oder emotionale Bindung.
    • Das Bild des vom Wind verwehten Blattes betont ihre Haltlosigkeit und emotionale Distanz zur Stadt – sie „kennen“ diese Heimat nicht wirklich.
  1. Lassen sich treiben in dem Strom der Dinge
  2. bis zu dem Zentrum, das sie anzieht:
  3. Berlin!
  4. Meilenweit verschlingt dieser Magnetberg
  5. im Umkreis die Eisenstücke.
  6. Meilenweit streckt dieses gewaltige Tier
  7. seine Arme.
  • Inhaltsbeschreibung
    • Diese Strophe beschreibt die Sogkraft der Großstadt – hier personifiziert als „Magnetberg“ oder „gewaltiges Tier“.
    • Berlin erscheint als übermächtiger Anziehungspunkt, der Menschen aus dem Umland verschlingt – eine kritische, fast bedrohliche Metapher für die Urbanisierung und Industrialisierung.
  1. Sie nippen von dir und kosten
  2. und prüfen
  3. und nehmen von dir, was ihnen passt –
  4. ihnen Gleich!
  5. Ihren Geist.
  6. Ihren Sinn.
  7. Ihre Seele.
  • Inhaltsbeschreibung
    • Die Stadt wird hier als etwas beschrieben, das aus den Menschen herausnimmt, was ihr nützlich ist – ohne Rücksicht auf das Individuum.
    • Die Menschen werden auf ihre Verwertbarkeit reduziert, ihre Persönlichkeit wird nivelliert: Geist, Sinn und Seele werden angeglichen, „ihnen Gleich“.
  1. Den Geist des Einzelnen!
  2. Den Sinn des Einzelnen!
  3. Die Seele des Einzelnen!
  4. Sie kennen dich nicht.
  • Inhaltsbeschreibung
    • Die Wiederholung verstärkt das Gefühl von Identitätsverlust: Der Einzelne geht in der Masse unter.
    • Die Kritik richtet sich an die anonymen Großstadtbewohner, denen eine echte Beziehung zur Stadt fehlt – sie erkennen in ihr keine Heimat.
  1. Deren Jugend hier aufwuchs
  2. zwischen all den Häusern
  3. Die den Himmel suchen mussten
  4. Sehnten sie sich nach der Bläue
  5. die kennen dich. Heimat!
  • Inhaltsbeschreibung
    • Jetzt wird ein Gegenbild entworfen: Menschen, die in der Stadt aufgewachsen sind, haben trotz der Enge eine Beziehung zu ihr entwickelt.
    • Ihre Sehnsucht nach Weite („Bläue“) macht ihre Verwurzelung und emotionale Bindung spürbar – sie erkennen die Stadt als ihre Heimat an.
  1. Die in den Strassen irrend Erinnerung
  2. überfällt – hier – und da – und dort wieder –
  3. die kennen dich.
  4. Denen du Wunden schlugst
  5. tief in ihre Seele –
  6. die erkennen dich: Werkmeister ihrer Seele.
  • Inhaltsbeschreibung
    • Heimat zeigt sich nicht nur in Vertrautheit, sondern auch im Schmerz.
    • Wer in der Stadt Verletzungen erlebt hat, trägt diese Erinnerungen in sich – sie machen die Stadt zu einem Teil der eigenen Geschichte.
    • Der starke Ausdruck „Werkmeister ihrer Seele“ zeigt: Die Stadt hat sie geprägt – in guten wie in schlechten Momenten.
  1. Und tausend und mehr als tausend Herzen
  2. nennen dich
  3. auch dich
  4. mit bebender Lippe:
  5. Heimat
  • Inhaltsbeschreibung
    • Am Ende steht eine emotionale Zusammenfassung:
    • Trotz aller Härten nennen viele Menschen die Stadt „Heimat“.
    • Die „bebende Lippe“ verweist auf starke Gefühle – Heimat ist nicht nur ein Ort, sondern eine emotionale Zugehörigkeit, gewachsen aus Erfahrung, Erinnerung und gelebtem Leben.

Die Aussagen des Gedichtes

Das Gedicht zeigt …

  1. dass Heimat nicht allein an ländliche Idylle gebunden ist, sondern auch in der oft geschmähten Großstadt empfunden werden kann – selbst dort, wo das Leben eng und hart ist.

  2. wie sich selbst hinter anonymen Mietskasernen ein gemeinsamer Himmel spannt – ein Bild der Verbundenheit trotz aller sozialen Unterschiede.

  3. dass Heimat kein objektiver Ort, sondern ein subjektives Gefühl ist – geprägt durch Erinnerung, Kindheit, Schmerz und gelebtes Leben.

  4. dass viele Zugezogene die Stadt nie wirklich als ihre Heimat empfinden, weil sie ihr nur pragmatisch begegnen – während andere durch Erfahrungen, Prägungen und Verletzungen mit ihr verwachsen sind.

  5. wie sprachliche Bilder – etwa vom „Magnetberg“ oder dem „Werkmeister der Seele“ – die Ambivalenz der Stadt erfahrbar machen: als anziehend und bedrohlich zugleich.

  6. dass die Großstadt zwar Individualität zu verschlucken scheint, aber gerade darin auch kollektive Erfahrungen von Heimat hervorbringt – oft erst im Rückblick oder durch biografische Brüche spürbar.

  7. wie eine zunächst kritische Betrachtung der urbanen Welt in eine unerwartete Aufwertung mündet: Nicht nur das Dorf, auch die Metropole kann ein Ort innerer Verankerung sein.

  8. dass Heimat nicht romantisiert wird – sondern mit „Wunden“, Irrwegen und zerrissenen Biografien verbunden ist, die dennoch eine emotionale Bindung erzeugen können.

  9. dass Heimat eine soziale Wirklichkeit ist – nicht das, was ein Ort vorgibt zu sein, sondern das, was Menschen dort empfinden, erleben und erinnern.

  10. wie stark unser Heimatgefühl mit Sprache verbunden ist: Die rhythmisierte Wiederholung, die Steigerung, der Kontrast zwischen Enge und Weite – all das macht aus einem gesellschaftlichen Thema ein tief empfundenes lyrisches Bekenntnis.

Die wichtigsten sprachlichen u.a. Mittel

die die Aussagen unterstützen:

Wir haben hier mal alles aufgeführt, was man als Schüler durchaus herausfinden kann.
Und zwar in der Reihenfolge, wie die Mittel im Gedicht erscheinen.

  • 2/3: Rhetorische Frage:
    „Ist Heimat nur Dorf und Land? Nur die kleinen Städte?“ (V. 2-3) Diese Fragen eröffnen das Gedicht und stellen die traditionelle, ländliche Definition von Heimat sofort infrage, indem sie eine erweiterte Perspektive einführen.
  • 4: Metapher:
    „Auch über dem Meer der Mietkasernen“ (V. 4) Die Stadt wird hier als ein „Meer“ beschrieben, was ihre Weite, Dichte und Unüberschaubarkeit bildlich hervorhebt.
  • 8-9: Vergleich
    „Ein Meer von Häusern duckt sich darunter wie Schafe, die in der Hürde zittern“ (V. 8-9) Dieser Vergleich vermittelt ein Bild von Enge und einer stillen, möglicherweise auch schutzlosen kollektiven Existenz der Stadthäuser.
  • 12-13: Vergleich
    „Ein rastlos Gewimmel. Wie Bienenfleiss. Wie Ameisenrennen“ (V. 12-13) Die Geschäftigkeit und Betriebsamkeit der Menschen in der Großstadt werden hier durch Vergleiche mit Insekten verdeutlicht, die unermüdliche, kollektive Aktivität betonen.
  • Anapher:
    15-18: „Gibt es nur ein Zurück? – Zu Dorf und Land? Gibt es nur eine Flucht? – Zu den kleinen Städten?“ (V. 15-18) Die Wiederholung von „Gibt es nur“ verstärkt die kritische Infragestellung der begrenzten Sichtweisen auf Heimat.
  • 19-22: Ausruf / Emphase:
    „Es gibt grössere Zusammenhänge! Es gibt grössere Organismen! Weit wie der Himmel! Und stark wie die Welt!“ (V. 19-22) Diese emphatischen Ausrufe leiten eine gedankliche Erweiterung des Heimatbegriffs ein und betonen die umfassende, organische Natur von Heimat.
  • 25: Vergleich
    „Wie der achtlose Wind ein Blatt verweht.“ (V. 25) Dieser Vergleich beschreibt die Zufälligkeit und mangelnde Verwurzelung der Menschen, die oberflächlich in der Stadt sind.
  • 31.32: Personifikation / Metapher:
    „Meilenweit streckt dieses gewaltige Tier seine Arme.“ (V. 31-32) Berlin wird hier als ein „gewaltiges Tier“ personifiziert, was ihre unaufhaltsame, vereinnahmende Macht und Anziehungskraft unterstreicht.
  • 37-39: Reihung / Anapher:
    „Ihren Geist. Ihren Sinn. Ihre Seele.“ (V. 37-39) Diese Aufzählung, die durch die Wiederholung des Possessivpronomens „Ihren“ eine Anapher bildet, betont die einzelnen Aspekte, die von den oberflächlichen Besuchern nur selektiv erfasst werden.
  • 54: Metapher:
    „Werkmeister ihrer Seele.“ (V. 54) Dies ist eine der zentralsten Metaphern des Gedichts, die die Stadt als prägende Kraft darstellt, die – auch durch schmerzhafte Erfahrungen – die Identität der Bewohner formt und zu einer tiefen Heimat-Erfahrung führt.

Hier noch eine Gesamtübersicht über die Mittel …

wie sie in der Literatur zu finden sind:

  1. Strophe: Die Infragestellung der ländlichen Heimat und die Einführung der urbanen Heimat

  • Rhetorische Fragen und Anaphern (V. 2-3, V. 15-18):
  • „Ist Heimat nur Dorf und Land? Nur die kleinen Städte?“
  • „Gibt es nur ein Zurück? – Zu Dorf und Land? Gibt es nur eine Flucht? – Zu den kleinen Städten?“

Diese Fragen eröffnen das Gedicht und stellen die traditionelle, auf ländliche Idylle beschränkte Definition von Heimat sofort infrage. Sie bereiten den Leser darauf vor, eine erweiterte Perspektive auf Heimat zu betrachten, die auch die Großstadt einschließt. Dies ist eine direkte Antwort auf die gängige Heimatliteratur jener Zeit, die oft das Bauerntum als „ursprünglich“ verklärte.

  • Metaphern und Vergleiche zur Beschreibung der Stadt (V. 4-9, V. 12-14):
  • „Auch über dem Meer der Mietkasernen wölbt sich der Nachthimmel mit all den Sternen.“ Die Stadt wird hier mit einem „Meer der Mietkasernen“ verglichen, was ihre Weite, Unüberschaubarkeit und Dichte betont.
  • „Ein Meer von Häusern duckt sich darunter wie Schafe, die in der Hürde zittern“. Die Häuser der Stadt werden als „Schafe, die in der Hürde zittern“ personifiziert und verglichen, was ein Bild von Enge, Schutzlosigkeit oder vielleicht auch einer kollektiven, stillen Existenz vermittelt. Dies steht im Kontrast zum weiten, unendlichen Himmel.
  • „Ein rastlos Gewimmel. Wie Bienenfleiss. Wie Ameisenrennen“. Die Geschäftigkeit der Menschen in der Stadt wird durch Vergleiche mit „Bienenfleiss“ und „Ameisenrennen“ verdeutlicht. Diese Similes betonen die unermüdliche, oft unbewusste Betriebsamkeit und das Kollektivverhalten der Großstädter, die unter dem „unendlichen ruhigen Himmel“ agieren.

Kontrast zwischen Himmel und Stadt (V. 4-7, V. 14):

  • Der „Nachthimmel mit all den Sternen“ und die „Milchstrasse“ stehen in starkem Kontrast zum „Meer der Mietkasernen“ und dem „Meer von Häusern“. Die Weite und Ruhe des Himmels hebt das „rastlose Gewimmel“ und die Enge der Stadt hervor und verleiht dem urbanen Treiben eine kosmische Dimension.
  • Ausrufe zur Erweiterung des Heimatbegriffs (V. 19-22):
  • „Es gibt grössere Zusammenhänge! Es gibt grössere Organismen! Weit wie der Himmel! Und stark wie die Welt!“

Diese emphatischen Ausrufe leiten eine gedankliche Erweiterung des Heimatbegriffs ein. Heimat ist nicht nur ein physischer Ort, sondern ein umfassenderes, organisches Konzept, das die Weite des Himmels und die Stärke der Welt umfasst.

  1. Strophe: Die Oberflächlichkeit der Nicht-Heimischen

Repetition und Antithese (V. 23, V. 43):

  • „Die kennen dich nicht,“ (V. 23) und am Ende der Strophe „Sie kennen dich nicht.“ (V. 43). Diese wiederkehrende Negation bildet einen starken Kontrast zu den „Heimat“-Fragen der ersten Strophe und leitet die dritte Strophe ein, in der es um diejenigen geht, die die Stadt „kennen“. Sie betont die fehlende tiefe Verbindung der im Folgenden beschriebenen Personen.

Vergleich für temporäre Bewohner (V. 24-25):

  • „Die der Zufall hierherführt / Wie der achtlose Wind ein Blatt verweht.“

Diese Menschen werden mit einem vom Wind verwehten Blatt verglichen. Dies unterstreicht ihre Zufälligkeit, ihre mangelnde Verwurzelung und die Oberflächlichkeit ihrer Beziehung zur Stadt. Es ist eine deutliche Abgrenzung zu denen, die eine tiefere Bindung zur „Heimat“ haben.

Personifikation Berlins als anziehende, verschlingende Macht (V. 27-32):

  • „bis zu dem Zentrum, das sie anzieht: Berlin!“
  • „Meilenweit verschlingt dieser Magnetberg im Umkreis die Eisenstücke.““Meilenweit streckt dieses gewaltige Tier seine Arme.“
  • Berlin wird als „Magnetberg“ und „gewaltiges Tier“ personifiziert, das Menschen anzieht und „verschlingt“. Diese kraftvollen Metaphern betonen die unwiderstehliche, aber auch potenziell gefährliche und vereinnahmende Macht der Großstadt

Verben der oberflächlichen Aneignung (V. 33-35):

  • Sie nippen von dir und kosten und prüfen und nehmen von dir, was ihnen passt“.
  • Diese Verben beschreiben eine unengagierte, selektive und utilitaristische Beziehung zur Stadt, im Gegensatz zu einer echten emotionalen Bindung

Reihung/Enumeration (V. 37-39, V. 40-42):

  • „Ihren Geist. Ihren Sinn. Ihre Seele.“
  • „Den Geist des Einzelnen! Den Sinn des Einzelnen! Die Seele des Einzelnen!“
  • Die Wiederholung dieser dreigliedrigen Aufzählung, zuerst als genommenes Gut, dann als einzelnes, betont, dass die oberflächlichen Besucher nur isolierte Aspekte erfassen und keine ganzheitliche Verbindung zur „Heimat“ herstellen.
  1. Strophe: Die tiefe Verbundenheit der wahren Heimischen

Antithese und Wiederaufnahme (V. 48, V. 51, V. 54):

  • „die kennen dich. Heimat!“ (V. 48)
  • „die kennen dich.“ (V. 51)
  • „die erkennen dich:“ (V. 54)

Diese Wiederholungen sind eine direkte Antwort auf das „Die kennen dich nicht“ der vorherigen Strophe. Sie bekräftigen die tiefe, oft durch Erfahrung geformte Kenntnis der Stadt als Heimat. Das explizite „Heimat!“ ist hier eine Bekräftigung des erweiterten Heimatbegriffs.

Beschreibung der Jugend und Erinnerung (V. 44-50):

  • „Deren Jugend hier aufwuchs zwischen all den Häusern Die den Himmel suchen mussten Sehnten sie sich nach der Bläue die kennen dich. Heimat!
  • „Die in den Strassen irrend Erinnerung überfällt – hier – und da – und dort wieder – die kennen dich.“

Die Jugend in der Stadt ist geprägt von der Notwendigkeit, das Schöne („Himmel“, „Bläue“) aktiv zu suchen. Die Erinnerung wird als etwas Lebendiges, Überfallartiges dargestellt, das an bestimmten Orten („hier – und da – und dort wieder –“) auftaucht und die tiefe, persönliche Verbindung zur Stadt verdeutlicht.

  • Metapher der Stadt als „Werkmeister ihrer Seele“ (V. 52-54):
  • „Denen du Wunden schlugst tief in ihre Seele – die erkennen dich: Werkmeister ihrer Seele.“

Dies ist eine der zentralsten und komplexesten Metaphern des Gedichts. Die Stadt wird als „Werkmeister“ der Seele ihrer Bewohner beschrieben. Obwohl sie „Wunden“ schlägt, formt sie die Identität und das Innere der Menschen. Diese ambivalenten, sowohl schmerzhaften als auch prägenden Erfahrungen führen zu einer tiefen, authentischen „Heimat“-Erfahrung und einem bewussten „Beheimatungs“-Prozess, wie es auch in sozio-psychologischen Kategorien von Maike Schroeter und anderen Ansichten des Heimatbegriffs um 1900 beschrieben wird, wo Heimat als aktive Aneignung einer vertrauten Lebenswelt verstanden wird.

Emotionaler und kollektiver Ausruf (V. 55-59):

  • „Und tausend und mehr als tausend Herzen nennen dich auch dich mit bebender Lippe: Heimat.“
  • Die Hyperbel „tausend und mehr als tausend Herzen“ und die sensorische Beschreibung „mit bebender Lippe“ verdeutlichen die überwältigende, kollektive und zutiefst emotionale Anerkennung der Stadt als Heimat. Trotz aller Widrigkeiten wird die Großstadt letztlich als wahrhaftige „Heimat“ bezeichnet und somit der in der ersten Strophe begonnene Prozess der Erweiterung des Heimatbegriffs abgeschlossen. Das „auch dich“ bezieht sich explizit auf die Großstadt.

Allgemeine sprachliche und stilistische Merkmale:

Freier Rhythmus und fehlendes Reimschema: Das Gedicht verzichtet auf feste Metren oder Reimschemata, was ihm einen natürlichen, fast prosaischen Fluss verleiht, der dem Charakter einer philosophischen Auseinandersetzung oder eines inneren Monologs entgegenkommt.

Wortwahl: Schur verwendet eine bildhafte und emotional aufgeladene Sprache („rastlos Gewimmel“, „tief in ihre Seele“, „bebender Lippe“), die die Eindringlichkeit der Aussagen verstärkt.

Struktur: Die Gliederung in drei Strophen mit jeweils unterschiedlicher Themengewichtung (Frage und Einführung, Negativbeispiel, Positive Bekräftigung) unterstützt die argumentative Entwicklung des Gedichts.

Das Gedicht „Heimat“ von Ernst Erich Walter Schur ist somit ein exemplarisches Beispiel für die literarische Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff, der über die romantisierte Vorstellung von Dorf und Land hinausgeht und die komplexe, auch schmerzhafte, aber tiefe Verbundenheit mit der modernen Großstadt als „Heimat“ anerkennt.

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