Ernst Wilhelm Lotz, „Die Nächte explodieren in den Städten…“ (Mat778)

Das folgende Gedicht lebt vor allem von dem Gegensatz zwischen der wilden, herausfordernden Umgebung der Städte und der noch furchtsam zurückhaltenden Einstellung der jungen Menschen. Die lassen sich zwar begeistern, fühlen sich aber noch nicht reif für ein Engagement. Stattdessen leben sie noch in den Tag hinein. Auffallend ist allerdings die Sicherheit, dass ihre Zeit noch kommen wird.
Anmerkungen zu Strophe 1
  • Die Nächte explodieren in den Städten,
  • Wir sind zerfetzt vom wilden, heißen Licht,
  • Und unsre Nerven flattern, irre Fäden,
  • Im Pflasterwind, der aus den Rädern bricht.

In der ersten Strophe wird das Zerstörerische und Krankhafte der Städte beschrieben.

Die zweite Zeile erweckt den Eindruck, als wäre man Opfer eines militärischen Angriffs gekommen. Quelle ist aber zu viel Licht, wie es typisch ist für Großstädte im Vergleich zu ländlichen Orten.

Die letzten Zeilen verbinden dann auf sehr eigenwillige Weise die eigenen Nerven mit einem „Pflasterwind“, den das lyrische Ich aus den Rädern der Autos hervorbrechen sieht.

Zunächst mag man bei diesem sprachlichen Mittel etwas irritiert sein. Dann kann man sich durchaus vorstellen, dass das lyrische Ich eine Verbindung sieht von Autorädern und den Pflastersteinen, die in vor 100 Jahren noch bei vielen Straßen den Bodenbelag gebildet haben. Dort lagert sich natürlich auch mehr Staub u.ä. ab, der von den Rädern dann hochgeschleudert wird, was diesen „Wind“ überhaupt erst sichtbar macht.

Anmerkungen zu Strophe 2
  • In Kaffeehäusern brannten jähe Stimmen
  • Auf unsre Stirn und heizten jung das Blut,
  • Wir flammten schon. Und suchen leise zu verglimmen,
  • Weil wir noch furchtsam sind vor eigner Glut.

In der zweiten Strophe geht es um das Leben der jungen Generation. Sie lassen sich zu hohen Zwecken aufheizen, ihnen fehlt aber noch der Mut, aus dieser „Glut“ etwas zu machen.

Anregung:
Hier könnte man sich überlegen, was konkret gemeint sein könnte.
Wer sich ein bisschen in der Weimarer Republik auskennt, könnte an politische Diskussionen denken – oder aber auch an Ideen die zu den wilden „Goldenen Zwanziger“-Jahren gehören.

Wenn man das KI-Chat-Programm fragt:
„Beispiele für extreme Vorstellungen von Lebenslust in sogenannten goldenen Zwanzigerjahren der Weimarer Republik“, wird man aufmerksam gemacht auf:

  1. Tanz und Musik, etwa den Charleston-Tanz
    Da ist man schnell bei
    https://de.wikipedia.org/wiki/Charleston_(Tanz)
    und stellt fest, dass dieser Tanz für Frauen ein weiterer Schritt waren in mehr Freizügigkeit
  2. „American Way of Life“ in Hollywood-Filmen
    siehe weiter unten: Film „Der blaue Engel“
  3. Mode und Freizügigkeit,
    etwa den „Bob“-Haarschnitt
    Kurzhaar-Frisur – als Gegenstück zur traditionellen Haartracht
    https://de.wikipedia.org/wiki/Bob_(Frisur)
  4. Ergänzung:
    Man müsste mal prüfen, inwieweit das Fahrradfahren auch zu etwas für Frauen wurde, was noch im Kaiserreich undenkbar war.
    Interessante Hinweise finden sich auf
    https://fernetzt.univie.ac.at/20220315/
  5. Nachtleben und Vergnügungsviertel
    Hier wäre zu prüfen, inwieweit da auch schon Drogen eine Rolle gespielt haben.
    https://www.welt.de/geschichte/article210374219/Goldene-Zwanziger-Die-Weimarer-Republik-voll-auf-Koks.html
  6. Technologischer Fortschritt
    (Autos und dann auch Flugzeuge werden zunehmend selbstverständlicher als Verkehrsmittel)
  7. Künstlerische Avantgarden
    etwa Dadaismus: als Revolte von Künstlern gegen traditionelle Vorstellungen von Kunst
  8. Frauenrechte und Emanzipation (Marlene Dietrich als Verkörperung dieses Trends, siehe den Film „Der blaue Engel“ auf der Basis des Romans „Professor Unrat“ von Heinrich Mann)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Der_blaue_Engel
Anmerkungen zu Strophe 3
  • Wir schweben müßig durch die Tageszeiten,
  • An hellen Ecken sprechen wir die Mädchen an.
  • Wir fühlen noch zu viel die greisen Köstlichkeiten
  • Der Liebe, die man leicht bezahlen kann.

Hier gibt es erstaunlich viel Selbstkritik. Die bezieht sich im wesentlichen darauf, dass sie einfach nur durch den Tag „schweben“ und sich um Mädchen kümmern.

Seltsam dann, dass dabei von „greisen Köstlichkeiten“ der Liebe gesprochen wird, die man angeblich „leicht bezahlen kann“.

Da muss man jetzt versuchen, möglichst überzeugende Deutungshypothesen aufzustellen. Am einfachsten ist die letzte Zeile: Die macht nämlich deutlich, dass alles, was Richtung Liebe geschieht, noch nicht ganz ernst gemeint ist – Richtung Partnerschaft und vielleicht Familiengründung.

Das Attribut „greise Köstlichkeiten“ könnte bedeuten, dass das eigentlich alt, nicht mehr aktuell ist, man jetzt mehr anstreben sollte.

Anmerkungen zu Strophe 4
  • Wir haben uns dem Tage übergeben
  • Und treiben arglos spielend vor dem Wind,
  • Wir sind sehr sicher, dorthin zu entschweben,
  • Wo man uns braucht, wenn wir geworden sind.

Die letzte Strophe macht deutlich, dass sie noch nicht die Herren ihres Schicksals sind, sondern „arglos spielend vor dem Wind“ „treiben“. Aber sie sich sich sicher, „dorthin zu entschweben, / Wo man uns braucht.“ Sie warten also gewissermaßen auf den großen Auftrag.
Außerdem nennen sie als Voraussetzung für ein mögliches Engagement, dass sie bis dahin etwas „geworden sind“.

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