Erzähltechnik im Roman „Corpus delicti“
- Bei der Klärung der Erzähltechnik, die in einem epischen Text verwendet wird, sollte man möglichst nicht von der Theorie ausgehen, sondern vom Text.
- Wichtig ist dabei nur, sich klarzumachen, dass es in einem Roman auf jeden Fall einen Erzähler gibt, denn das, was erzählt werden soll, muss ja von jemandem ausgehen.
— - Wichtig ist dann die Frage, wie sehr der Erzähler selbst auch präsent ist beziehungsweise sichtbar wird, das Geschehen kommentiert, Rückblicke einbaut oder auch schon mal auf spätere Ereignisse verweist. Solch ein Erzählverhalten nennt man auktorial.
— - Daneben gibt es eine weitgehend neutrale Erzählweise, allerdings auch aus der alleinigen Perspektive des Erzählers. Der kann dabei durchaus auch berichten, was in den Personen vorgeht. Wenn der Erzähler sich aber weitgehend hinter die Personen zurückzieht, gewissermaßen nur das wiedergibt, was sie erleben, denken, tun. Dann spricht man von einer personalen Erzählweise. Der Begriff hängt mit dem lateinischen Wort von Maske zusammen, d.h. der Erzähler versteckt sich gewissermaßen hinter den Figuren.
— - Schon die ersten beiden Kapitel, das Vorwort und das Urteil, machen deutlich, wie sehr präsent der Erzähler hier ist, auch wenn er selbst scheinbar nichts sagt. Er arrangiert auf ganz besondere Art und Weise das, was der Leser seiner Meinung nach am Anfang schon wissen sollte.
- Allerdings hat das ganze noch den Anschein einer Dokumentation, hinter die der Erzähler sich gewissermaßen zurückzieht. Man könnte also auch sagen: diese beiden Kapitel sind multiperspektivisch, zum einen präsentiert Heinrich Kramer seine Vorstellungen von Gesundheit als Basis des Staates. Auf der anderen Seite trägt der Richter das schlussendliche Urteil vor.
— - Man sieht dass du hier sehr gut, dass es nicht in erster Linie darauf ankommt, sich eindeutig auf Begriffe festzulegen. Viel wichtiger ist es, sich klarzumachen, was der Erzähler eben eigentlich tut und das ist hier doppeldeutig: Scheinbar hält er sich selbst erst mal völlig zurück, in Wirklichkeit aber arrangiert er etwas, wie es auch Künstler zum Beispiel in einer Montage tun.
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- Zu Beginn des dritten Kapitels, mit dem die Erzählung eigentlich beginnt, gibt es dann so eine Art Erzählerbericht mit stark beschreibenden, aber auch interpretierenden Elementen.
- „Rings um zusammengewachsene Städte bedeckt Wald die Hügelketten. Sendertürme zielen auf weitere Wolken, deren Bäuche schon lange nicht mehr grau sind vom schlechten Atem eine Zivilisation, die einst glaubte, ihre Anwesenheit auf diesem Planeten vor allem durch den Ausstoß gewaltiger Schmutzmengen beweisen zu müssen.“
- Der Erzähler beschreibt hier nicht nur, was er sieht und auch was er empfindet, sondern er zeigt auch auf, was sich seiner Meinung nach geändert hat. insgesamt wird deutlich, dass er die Entwicklung eher positiv beurteilt.
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- Noch interessanter und auch typischer für die Erzählweise in diesem Roman ist dann der Schluss des zweiten Absatzes, wenn er die Beschreibung mit dem Satz beendet:
„Dort beginnt unsere Geschichte.“
Hier werden ganz eindeutig die Leser einbezogen und es wird gewissermaßen ein gemeinsamer Kommunikationsraum aufgebaut.
— - Das Ganze erinnert an die doch recht auktoriale Haltung, angelehnt an Romane des 19. Jahrhunderts.
Es wird zu prüfen sein, ob das ein Rückschritt ist oder ob es sich rechtfertigt durch das, was dieser Roman erreichen möchte, nämlich genau die Einbeziehung des Lesers, möglicherweise auch mit der Erweckung von Empathie beziehungsweise sogar Sympathie. - —-
- Eine zweite interessante Stelle ist dann gegeben, wenn die Gedanken der Richterin wiedergegeben werden:
„Sie hat mit Bell zusammen studiert, und er konnte schon vor acht Jahren in der Mensa nervtötende Vorträge über Rachenrauminfektionen halten, die durch den oralen Kontakt mit verkeimten Fremdkörpern verursacht werden. Als ob es in irgendeinem öffentlichen Raum im Land Keime gäbe.“ - Dies geht schon in die Richtung der erlebten Rede, einer besonderen Form der Wiedergabe der Gedanken einer Person durch den Erzähler, was spätestens im letzten Satz ganz deutlich wird.
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- Diese spezielle Wir-Haltung des Erzählers wird dann wieder sichtbar, wenn Mia das erste Mal vorgestellt wird:
„Ihr Gesicht strahlt jene besondere Anmutung von Sauberkeit aus, die wir auch an den Anwesenden beobachten können und die allen Mienen etwas Unberührtes, Altersloses, etwas Kindliches gibt: den Ausdruck von Menschen, die ein Leben lang von Schmerz verschont geblieben sind.“ - Hier haben wir wieder die Kombination von Bericht, persönlicher Interpretation und Einbeziehung des Lesers.Wir setzen das noch fort, reagieren aber auch gerne auf Fragen 😉
Nachtrag von einer anderen Seite:
Es kann Überschneidungen geben – aber lieber mehr Infos als weniger 😉
Wir sammeln hier erst mal besonders interessante Textstellen, die die Erzählweise im Roman deutlich machen:
Ein extremes Beispiel für Personifikation und Spiel mit der Negation
- Interessant ist die Erzählweise, was den Raum und Kramer angeht (188):
- „In Mias Zelle ist es so eng,
- als würde die Abwesenheit von Möbeln den quadratischen Raum einschrumpfen.
- Keine Stühle stehen am nicht vorhandenen Tisch.
- Unter dem Fenster macht sich die Ermangelung einer Schlafstätte bereit,
- während kein Schrank die fehlenden Regale zur Hälfte verdeckt.
- Der restliche Raum wird vollständig von klinischer Sauberkeit eingenommen.
- Schon nach vier Tagen in dieser Zelle hätte Mia jeden Besucher vor gelassen.
- Sie braucht Unterstützung bei der Aufgabe, an einem Ort zu existieren, der sogar von Möbeln gemieden wird.
- Kramer eignet sich dazu perfekt.
- Ein Zimmer, das er betritt, ist nicht leer.
- Er bringt die Anmutung einer Einrichtung mit, oder vielleicht ist er die Einrichtung,
- elegant, aber funktional.
- Mia hat alle Mühe, sich die Freude über sein kommen nicht anmerken zu lassen.“
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- „Corpus Delicti“: Roman von Juli Zeh
https://textaussage.de/roman-corpus-delicti-themenseite
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos