Wenn absolute Wachsamkeit gefordert wird …
Vorgestellt wird ein Gedicht aus der Zeit der Aufklärung, das rigoros ist in den Forderungen.
Dieses Gedicht, das zu tugendhafter „Wachsamkeit“ auffordert, haben wir hier gefunden:
Christian Fürchtegott Gellert
Die Wachsamkeit
- Die Überschrift geht schon in eine Richtung, die viel mit Vernunft zu tun hat.
- Nicht, dass ich’s schon ergriffen hätte;
- Die beste Tugend bleibt noch schwach;
- Doch, dass ich meine Seele rette,
- Jag ich dem Kleinod eifrig nach.
- Denn Tugend ohne Wachsamkeit
- Verliert sich bald in Sicherheit.
- In der ersten Strophe reflektiert das lyrische Ich seine Situation.
- Es will seine Seele retten und glaubt, dafür, Tugend nötig zu haben.
- Und für deren Erhalt glaubt das lyrische ich, absolute Wachsamkeit zu brauchen.
- So lang ich hier im Leibe walle,
- Bin ich ein Kind, das strauchelnd geht.
- Der sehe zu, dass er nicht falle,
- Der, wenn sein Nächster fällt, noch steht.
- Auch die bekämpfte böse Lust
- Stirbt niemals ganz in unsrer Brust.
- In der zweiten Strophe wird dann deutlich, dass diese Anstrengung ganz offensichtlich einen religiösen Bezug hat.
- Nicht jede Besserung ist Tugend;
- Oft ist sie nur das Werk der Zeit.
- Die wilde Hitze roher Jugend
- Wird mit den Jahren Sittsamkeit:
- Und was Natur und Zeit getan,
- Sieht unser Stolz für Tugend an.
- Diese Strophe wird zum Teil auch ganz allein für sich veröffentlicht.
- Auf jeden Fall soll deutlich werden, dass Besserung und Tugend nicht identisch sind
- Auch hier fehlt es mal wieder an Konkretisierung, vielleicht kommt das aber noch.
- Oft ist die Ändrung deiner Seelen
- Ein Tausch der Triebe der Natur.
- Du fühlst, wie Stolz und Ruhmsucht quälen,
- Und dämpfst sie; doch du wechselst nur;
- Dein Herz fühlt einen andern Reiz,
- Dein Stolz wird Wollust, oder Geiz.
- Hier wird es etwas konkreter.
- Aber man wünscht sich das doch etwas genauer.
- Man kann das zum Beispiel so sehen, dass der Stolz natürlich mit der Zeit zurückgeht, weil mit dem Alter die Voraussetzungen dafür auch geringer werden können.
- Dann ist es durchaus verständlich, wenn man geizig wird stattdessen.
- Der Grund dafür ist einfach, dass man im Alter mit seinen Kräften haushalten muss.
- Oft ist es Kunst und Eigenliebe,
- Was andern strenge Tugend scheint.
- Der Trieb des Neids, der Schmähsucht Triebe
- Erweckten dir so manchen Feind;
- Du wirst behutsam, schränkst dich ein,
- Fliehst nicht die Schmähsucht, nur den Schein.
- Hier wird sicherlich ein wichtiger Punkt angesprochen.
- Bestimmte negative Eigenschaften werden nur noch im verborgenen ausgelebt.
- Du denkst, weil Dinge dich nicht rühren,
- Durch die der andern Tugend fällt:
- So werde nichts dein Herz verführen;
- Doch jedes Herz hat seine Welt.
- Den, welchen Stand und Gold nicht rührt,
- Hat oft ein Blick, ein Wort verführt.
- Hier wird deutlich gemacht, dass es nicht reicht, sich von anderen positiv abheben zu können.
- Es könne durchaus sein, dass man dabei spezielle eigene Schwächen übersieht.
- Offensichtlich bezieht die im Titel angesprochene Wachsamkeit sich auf die Gesamtheit der eigenen Eigenschaften.
- Oft schläft der Trieb in deinem Herzen.
- Du scheinst von Rachsucht dir befreit;
- Jetzt sollst du eine Schmach verschmerzen,
- Und sieh, dein Herz wallt auf und dräut,
- Und schilt so lieblos und so hart,
- Als es zuerst gescholten ward.
- In dieser Strophe geht es darum, dass gewisse moralische Fehler erst in bestimmten Situationen sichtbar werden.
- Wie man die aber rechtzeitig bemerken kann, bleibt offen.
- Fast wünscht man sich hier eine Liste, die man für sich durchgehen kann.
- Oft denkt, wenn wir der Stille pflegen,
- Das Herz im stillen tugendhaft.
- Kaum lachet uns die Welt entgegen:
- So regt sich unsre Leidenschaft.
- Wir werden im Geräusche schwach,
- Und geben endlich strafbar nach.
- Hier wird der wichtige Aspekt der Gemeinschaft angesprochen.
- Man kann das zum Beispiel am Alkoholismus deutlich machen.
- Privat kann man ihn unter Kontrolle haben, in Gemeinschaft wird das schwieriger.
- Du opferst Gott die leichtern Triebe
- Durch einen strengen Lebenslauf;
- Doch opferst du, will’s seine Liebe,
- Ihm auch die liebste Neigung auf?
- Dies ist das Auge, dies der Fuß,
- Die sich der Christ entreißen muss.
- Hier wird es jetzt besonders hart.
- Denn es wird auf eine ziemlich brutale Stelle in der Bibel angespielt.
- Da ist die Rede davon, dass man sich aus Liebe zu Gott und um der eigenen Seligkeit willen sogar ein Körperteil abtrennen soll.
- Das wird hier allerdings aus dem konkreten Bereich ins Allgemeine gehoben.
- So ist es wahrscheinlich in der Bibel auch gemeint: Es geht darum, dass man etwas opfert, was einem persönlich sehr wichtig ist, worauf man aber für einen höheren Zweck verzichten sollte.
- Das könnte zum Beispiel die Karriere sein, auf die man verzichtet, um zum Beispiel sich der Erziehung der Kinder oder der Pflege der Eltern zu widmen.
- Du fliehst, geneigt zu Ruh und Stille,
- Die Welt, und liebst die Einsamkeit;
- Doch bist du, fordert’s Gottes Wille,
- Auch dieser zu entfliehn bereit?
- Dein Herz hasst Habsucht, Neid und Zank;
- Flieht’s Unmut auch und Müßiggang?
- In dieser Strophe werden zwei mögliche Fälle aufgeführt, in denen man etwas opfern sollte.
- Im ersten Fall geht es um ein ruhiges Leben in Einsamkeit, das man zum Beispiel aufgeben muss, weil man im Auftrag Gottes in die Welt hinaus muss.
- Im Schlussteil hat man dann den Ansatz einer Liste, die jeder für sich selbst abprüfen kann.
- Du bist gerecht; denn auch bescheiden?
- Liebst Mäßigkeit; denn auch Geduld?
- Du dienest gern, wenn andre leiden;
- Vergibst du Feinden auch die Schuld?
- Von allen Lastern sollst du rein,
- Zu aller Tugend willig sein.
- Hier gibt es eine Art Zusammenfassung.
- Sie soll wohl beispielhaft deutlich machen, dass auch bei einer Anzahl von Tugenden noch etwas fehlen könnte.
- Sei nicht vermessen! Wach und streite;
- Denk nicht, daß du schon gnug getan.
- Dein Herz hat seine schwache Seite,
- Die greift der Feind der Wohlfahrt an.
- Die Sicherheit droht dir den Fall;
- Drum wache stets, wach überall!
- Am Ende wird die Überanstrengung, die mit diesem Forderung Katalog verbunden sein kann, noch einmal besonders deutlich
- Damit ist man auch schon an der Stelle, an der man Kritik üben kann oder sogar in einer Art Widerstand geht.
- Hier ist ein religiöser Rigorismus gefordert, der auch gefährliche Folgen haben kann.
- Dann ist es gerade die Stränge gegen sich selbst, die für andere Menschen zu einer Belastung wird.
Anregungen:
- Auch hier lohnt es sich, die einzelnen Behauptungen zu konkretisieren.
- Im Falle der Beschränkungen im Alter haben wir das mal ansatzweise versucht.
- Ansonsten hoffen wir, dass viele Leute angesichts des moralischen Rigorismus, den das Gedicht ausstrahlt, Lust auf Widerrede haben.
- Man könnte also gut ein Gegengedicht schreiben.
- Das muss ja nicht unbedingt mit regelmäßigem Reim und festem Versmaß erscheinen.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Gedichte der Aufklärung – kurz vorgestellt
https://textaussage.de/gedichte-der-aufklaerung-ueberblick-und-beispiele - Infos, Tipps und Materialien zur deutschen Literaturgeschichte
https://textaussage.de/deutsche-literaturgeschichte-themenseite
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- Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos