Gellert, „Wachsamkeit“ mit: „Nicht jede Besserung…“ (Mat9445)

Wenn absolute Wachsamkeit gefordert wird …

Vorgestellt wird ein Gedicht aus der Zeit der Aufklärung, das rigoros ist in den Forderungen.

Dieses Gedicht, das zu tugendhafter „Wachsamkeit“ auffordert, haben wir hier gefunden:

Quelle: Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 226-228.

Christian Fürchtegott Gellert

Die Wachsamkeit

  • Die Überschrift geht schon in eine Richtung, die viel mit Vernunft zu tun hat.
  1. Nicht, dass ich’s schon ergriffen hätte;
  2. Die beste Tugend bleibt noch schwach;
  3. Doch, dass ich meine Seele rette,
  4. Jag ich dem Kleinod eifrig nach.
  5. Denn Tugend ohne Wachsamkeit
  6. Verliert sich bald in Sicherheit.
  • In der ersten Strophe reflektiert das lyrische Ich seine Situation.
  • Es will seine Seele retten und glaubt, dafür, Tugend nötig zu haben.
  • Und für deren Erhalt glaubt das lyrische ich, absolute Wachsamkeit zu brauchen.
  1. So lang ich hier im Leibe walle,
  2. Bin ich ein Kind, das strauchelnd geht.
  3. Der sehe zu, dass er nicht falle,
  4. Der, wenn sein Nächster fällt, noch steht.
  5. Auch die bekämpfte böse Lust
  6. Stirbt niemals ganz in unsrer Brust.
  • In der zweiten Strophe wird dann deutlich, dass diese Anstrengung ganz offensichtlich einen religiösen Bezug hat.
  1. Nicht jede Besserung ist Tugend;
  2. Oft ist sie nur das Werk der Zeit.
  3. Die wilde Hitze roher Jugend
  4. Wird mit den Jahren Sittsamkeit:
  5. Und was Natur und Zeit getan,
  6. Sieht unser Stolz für Tugend an.
  • Diese Strophe wird zum Teil auch ganz allein für sich veröffentlicht.
  • Auf jeden Fall soll deutlich werden, dass Besserung und Tugend nicht identisch sind
  • Auch hier fehlt es mal wieder an Konkretisierung, vielleicht kommt das aber noch.
  1. Oft ist die Ändrung deiner Seelen
  2. Ein Tausch der Triebe der Natur.
  3. Du fühlst, wie Stolz und Ruhmsucht quälen,
  4. Und dämpfst sie; doch du wechselst nur;
  5. Dein Herz fühlt einen andern Reiz,
  6. Dein Stolz wird Wollust, oder Geiz.
  • Hier wird es etwas konkreter.
  • Aber man wünscht sich das doch etwas genauer.
  • Man kann das zum Beispiel so sehen, dass der Stolz natürlich mit der Zeit zurückgeht, weil mit dem Alter die Voraussetzungen dafür auch geringer werden können.
  • Dann ist es durchaus verständlich, wenn man geizig wird stattdessen.
  • Der Grund dafür ist einfach, dass man im Alter mit seinen Kräften haushalten muss.
  1. Oft ist es Kunst und Eigenliebe,
  2. Was andern strenge Tugend scheint.
  3. Der Trieb des Neids, der Schmähsucht Triebe
  4. Erweckten dir so manchen Feind;
  5. Du wirst behutsam, schränkst dich ein,
  6. Fliehst nicht die Schmähsucht, nur den Schein.
  • Hier wird sicherlich ein wichtiger Punkt angesprochen.
  • Bestimmte negative Eigenschaften werden nur noch im verborgenen ausgelebt.
  1. Du denkst, weil Dinge dich nicht rühren,
  2. Durch die der andern Tugend fällt:
  3. So werde nichts dein Herz verführen;
  4. Doch jedes Herz hat seine Welt.
  5. Den, welchen Stand und Gold nicht rührt,
  6. Hat oft ein Blick, ein Wort verführt.
  • Hier wird deutlich gemacht, dass es nicht reicht, sich von anderen positiv abheben zu können.
  • Es könne durchaus sein, dass man dabei spezielle eigene Schwächen übersieht.
  • Offensichtlich bezieht die im Titel angesprochene Wachsamkeit sich auf die Gesamtheit der eigenen Eigenschaften.
  1. Oft schläft der Trieb in deinem Herzen.
  2. Du scheinst von Rachsucht dir befreit;
  3. Jetzt sollst du eine Schmach verschmerzen,
  4. Und sieh, dein Herz wallt auf und dräut,
  5. Und schilt so lieblos und so hart,
  6. Als es zuerst gescholten ward.
  • In dieser Strophe geht es darum, dass gewisse moralische Fehler erst in bestimmten Situationen sichtbar werden.
  • Wie man die aber rechtzeitig bemerken kann, bleibt offen.
  • Fast wünscht man sich hier eine Liste, die man für sich durchgehen kann.
  1. Oft denkt, wenn wir der Stille pflegen,
  2. Das Herz im stillen tugendhaft.
  3. Kaum lachet uns die Welt entgegen:
  4. So regt sich unsre Leidenschaft.
  5. Wir werden im Geräusche schwach,
  6. Und geben endlich strafbar nach.
  • Hier wird der wichtige Aspekt der Gemeinschaft angesprochen.
  • Man kann das zum Beispiel am Alkoholismus deutlich machen.
  • Privat kann man ihn unter Kontrolle haben, in Gemeinschaft wird das schwieriger.
  1. Du opferst Gott die leichtern Triebe
  2. Durch einen strengen Lebenslauf;
  3. Doch opferst du, will’s seine Liebe,
  4. Ihm auch die liebste Neigung auf?
  5. Dies ist das Auge, dies der Fuß,
  6. Die sich der Christ entreißen muss.
  • Hier wird es jetzt besonders hart.
  • Denn es wird auf eine ziemlich brutale Stelle in der Bibel angespielt.
  • Da ist die Rede davon, dass man sich aus Liebe zu Gott und um der eigenen Seligkeit willen sogar ein Körperteil abtrennen soll.
  • Das wird hier allerdings aus dem konkreten Bereich ins Allgemeine gehoben.
  • So ist es wahrscheinlich in der Bibel auch gemeint: Es geht darum, dass man etwas opfert, was einem persönlich sehr wichtig ist, worauf man aber für einen höheren Zweck verzichten sollte.
  • Das könnte zum Beispiel die Karriere sein, auf die man verzichtet, um zum Beispiel sich der Erziehung der Kinder oder der Pflege der Eltern zu widmen.
  1. Du fliehst, geneigt zu Ruh und Stille,
  2. Die Welt, und liebst die Einsamkeit;
  3. Doch bist du, fordert’s Gottes Wille,
  4. Auch dieser zu entfliehn bereit?
  5. Dein Herz hasst Habsucht, Neid und Zank;
  6. Flieht’s Unmut auch und Müßiggang?
  • In dieser Strophe werden zwei mögliche Fälle aufgeführt, in denen man etwas opfern sollte.
  • Im ersten Fall geht es um ein ruhiges Leben in Einsamkeit, das man zum Beispiel aufgeben muss, weil man im Auftrag Gottes in die Welt hinaus muss.
  • Im Schlussteil hat man dann den Ansatz einer Liste, die jeder für sich selbst abprüfen kann.
  1. Du bist gerecht; denn auch bescheiden?
  2. Liebst Mäßigkeit; denn auch Geduld?
  3. Du dienest gern, wenn andre leiden;
  4. Vergibst du Feinden auch die Schuld?
  5. Von allen Lastern sollst du rein,
  6. Zu aller Tugend willig sein.
  • Hier gibt es eine Art Zusammenfassung.
  • Sie soll wohl beispielhaft deutlich machen, dass auch bei einer Anzahl von Tugenden noch etwas fehlen könnte.

 

  1. Sei nicht vermessen! Wach und streite;
  2. Denk nicht, daß du schon gnug getan.
  3. Dein Herz hat seine schwache Seite,
  4. Die greift der Feind der Wohlfahrt an.
  5. Die Sicherheit droht dir den Fall;
  6. Drum wache stets, wach überall!
  • Am Ende wird die Überanstrengung, die mit diesem Forderung Katalog verbunden sein kann, noch einmal besonders deutlich
  • Damit ist man auch schon an der Stelle, an der man Kritik üben kann oder sogar in einer Art Widerstand geht.
  • Hier ist ein religiöser Rigorismus gefordert, der auch gefährliche Folgen haben kann.
  • Dann ist es gerade die Stränge gegen sich selbst, die für andere Menschen zu einer Belastung wird.

Anregungen:

  • Auch hier lohnt es sich, die einzelnen Behauptungen zu konkretisieren.
  • Im Falle der Beschränkungen im Alter haben wir das mal ansatzweise versucht.
  • Ansonsten hoffen wir, dass viele Leute angesichts des moralischen Rigorismus, den das Gedicht ausstrahlt, Lust auf Widerrede haben.
  • Man könnte also gut ein Gegengedicht schreiben.
  • Das muss ja nicht unbedingt mit regelmäßigem Reim und festem Versmaß erscheinen.

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