Worum es hier geht:
Auf der Seite
https://schnell-durchblicken.de/gryphius-an-eine-jungfrau-barockgedicht
haben wir dieses Gedicht inhaltlich und recht kritisch aus heutiger Perspektive vorgestellt.
Im Deutschunterricht spielen nun die sogenannten eine besondere und manchmal auch verhängnisvolle Rolle. Sie werden nämlich einzeln betrachtet
Wir nehmen das Wort „Mittel“ ernst und ordnen die den Aussagen zu. Dann ist es auch viel sinnvoller, ihre Funktion und Wirkung zu betrachten.
Hauptaussage: Die Schönheit der Jungfrau ist gefährlich, todbringend und eine Falle.
Das Gedicht verwendet in den ersten elf Zeilen eine Reihe von Conceits (komplexen Metaphern, typisch für die Barocklyrik), um die äußere Erscheinung der Jungfrau als gefährliche Waffe oder zerstörerische Kraft darzustellen.
Zarter Mund
Ist ein Köcher voller Pfeile, die das weiche Herz bis in den Tod verletzen.
Metapher / Conceit
Helle Augen Glanz
Ist Flammen gleich geschätzt, an dem man sich verbrennt.
Vergleich („gleich geschätzt“), Metapher (Brand, Zerstörung)
Wunderschöne Haar
Sind lauter Liebes-Seile, die fesseln und verhetzen.
Metapher / Conceit (Falle)
Stirnen Glanz / Lilien des Halses
Verführen und denen man sich widersetzt.
Umschreibungen, Metaphern für Schönheit (Lilien = Weißheit, Reinheit, die dennoch verführt)
Bloße Brust
Sendet einen Blitz aus, der den Betrachter ereilt.
Metapher / Hyperbel (Blitz)
Gesamtwirkung
Wer voll von Zunder steckt, bei dem kann ein Funk leicht großes Feuer erregen.
Analogie / Metapher (Zunder, Funk, Feuer) zur Beschreibung des Verführungsprozesses
Zusammenfassende Aussage:
Die sinnliche Attraktivität der Jungfrau wird durchgängig mit Begriffen des Todes, der Verletzung, des Feuers und der Gefangenschaft verknüpft.
Hauptaussage: Die Schönheit ist vergänglich und geistig wertlos (Vanitas-Gedanke).
In den letzten drei Zeilen (Terzetten) erfolgt eine scharfe Wendung, in der die zuvor beschriebene Schönheit abgewertet wird. Diese Wendung wird oft als Volte bezeichnet, die für das Sonett typisch ist.
Die Schönheit
Ist als das, was hoch geachtet wird, in Wirklichkeit eine „schöne Nichtigkeit“.
Paradoxon / Antithese: Kontrastierung von „schön“ (positiv) und „Nichtigkeit“ (negativ, Vanitas-Motiv).
Der Betrachter
Wer die Schönheit rational als das betrachtet, was sie ist, wird von ihr nicht zur „Brunst“ (Leidenschaft) bewegt.
Rhetorische Schlussfolgerung / Appell („glaubt mir’s fest“).
Resultat
Rationale Distanzierung und kritische Betrachtung („was Ihr seid betracht’“) führt zur Immunisierung gegen die Verführung.
Betonung der ratio über die emotio.
Zusammenfassende Aussage:
Die physische Schönheit ist nichtig und flüchtig. Ein Mensch, der diese Oberflächlichkeit erkennt, lässt sich von ihr nicht verführen, was eine Abkehr von der bloßen körperlichen Anziehung darstellt.
Sonstige Mittel (Form):
Das sollte man nicht vergessen, dass zu den Mitteln bsd. in der Barockzeit auch die äußere Form gehört.
Das Gedicht liegt in einer Form vor, die typischerweise die Struktur eines Sonetts aufweist (14 Zeilen, bestehend aus Quartetten und Terzetten).
Die sprachliche Dichte und der Einsatz komplexer Bildketten (Conceits) sind charakteristisch für die barocke Lyrik des 17. Jahrhunderts, zu der Andreas Gryphius gehört.
Die Struktur des Gedichts gleicht einem Gefecht: Zuerst wird die überwältigende Kraft des Gegners (der Schönheit) detailliert beschrieben, wobei jedes Detail (Mund, Augen, Haar) als gefährliche Waffe erscheint. Dann folgt im Schlussteil die rational begründete Entwaffnung dieses Gegners, indem seine Macht als bloße „Nichtigkeit“ entlarvt wird, ähnlich wie ein Zauber, dessen Illusion verfliegt, sobald man das Geheimnis kennt.
Nun noch zu unserem „strategischen“ Mittel
Wir finden es schade, dass im Deutschunterricht endlos nach einzelnen Mitteln gesucht wird. In der Realität ist jeder Schriftsteller wie auch jeder Künstler auf der Suche nach dem besonderen Einfall, der dann zu einem Kunstwerk führt.
Das spielt zwar in der Barockzeit eine geringere Rolle als heute. Denn damals wurde die Schriftstellerei als Handwerk betrachtet – muss gut sein, aber nicht originell.
Schauen wir uns das hier mal an:
Das zentrale strategische Mittel, das Andreas Gryphius in „An eine Jungfrau“ nutzt und das dieses Gedicht innerhalb der barocken Liebeslyrik besonders hervorhebt, ist die radikale Subversion der traditionellen Liebeskonventionen durch das Vanitas-Motiv und die Betonung der Vernunft (Ratio).
Strategisches Mittel: Die Volte zur Ratio
Das Gedicht setzt strategisch auf eine zweistufige Wirkung:
- Aufbau der Verführung (Die ersten elf Zeilen): Gryphius beginnt zunächst mit einer ausführlichen Auflistung (Conceits) der körperlichen Reize der Jungfrau, die alle als gefährlich, todbringend und verführend dargestellt werden. Diese Technik, die Schönheit als Waffe zu beschreiben (zarter Mund als Köcher voller Pfeile, Augen als Flammen, Haar als Liebes-Seile), ist typisch für die barocke und petrarkistische Dichtung. Die Wirkung dieser ersten Strophen ist überwältigend und sinnlich-verführerisch.
- Strategischer Abbruch und rationale Umdeutung (Die letzten drei Zeilen): Der entscheidende strategische Zug erfolgt in den letzten drei Zeilen, der sogenannten Volte des Sonetts. Hier wird die gesamte zuvor aufgebaute, überwältigende Sinnlichkeit abrupt entwertet. Gryphius entlarvt die Schönheit als „schöne Nichtigkeit“.
Diese strategische Volte dient dazu:
- Didaktische Wende:
Das Gedicht wird von einer Beschreibung der Verführung zu einer moralischen Belehrung über die Vergänglichkeit (Vanitas). Es appelliert an die rationale Erkenntnis des Lesers bzw. des Betrachters.
— - Antithese (Kontrast):
Durch die Gegenüberstellung der physischen Anziehung („dies was Ihr so hoch acht’“) und der spirituellen bzw. rationalen Wahrheit („schöne Nichtigkeit“) erzeugt Gryphius eine starke Spannung. Die wahre Stärke liegt nicht in der Leidenschaft (Brunst), sondern in der rationalen Betrachtung des Wesens der Schönheit („was Ihr seid betracht’“).
— - Immunisierung: Der strategische Zweck des Schlusses ist die Immunisierung gegen die sinnliche Verführung. Wer die Schönheit als das erkennt, was sie ist – flüchtig und wertlos –, der kann ihr nicht verfallen („Den sollt Ihr, glaubt mir’s fest, zu keiner Brunst bewegen“).
Das zentrale strategische Mittel ist also die Verwendung barocker Formelemente (Conceits, Vanitas-Motiv) zu dem Zweck, die Macht der Liebe zu leugnen und sie der rationalen Kritik zu unterstellen.
Rolle in der Barockzeit
Die Frage, ob dies ein Mittel ist, um sich von vergleichbaren Gedichten abzuheben, kann man grundsätzlich bejahen.
Die Barockzeit war durch tiefgreifende Spannungen zwischen dem Diesseits (Lust, Pracht) und dem Jenseits (Vanitas, Memento Mori) gekennzeichnet. Gryphius greift diese Spannung auf, indem er nicht nur die Vergänglichkeit der Schönheit beschreibt (was viele taten), sondern indem er die Vergessenheit der Schönheit als rationale Handlungsanweisung formuliert.
Während der Expressionismus später Strategien zur Abhebung nutzen würde, die auf radikaler Formsprengung, Verfremdung oder der Darstellung innerer, zerbrochener Subjektivität basieren, nutzt Gryphius in der Barockzeit die Perfektion und logische Struktur des Sonetts, um eine tiefgreifende philosophische oder moralische Erkenntnis zu vermitteln. Der strategische Erfolg liegt hier in der dramatischen Auflösung eines Konflikts innerhalb einer hochgradig formalisierten Struktur.
Der strategische Clou Gryphius’ ist vergleichbar mit einem Zauberkünstler, der alle Tricks des Showbusiness (die verführerischen Conceits) meisterhaft vorführt, nur um am Ende zu verkünden: „Es ist alles nur Illusion, eine ’schöne Nichtigkeit‘.“
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Barock, bsd. Lyrik
https://textaussage.de/lyrik-der-epoche-des-barock-themenseite
— - Barock – die wichtigsten Gedichte
https://textaussage.de/barock-die-wichtigsten-gedichte
— - Infos, Tipps und Materialien zur deutschen Literaturgeschichte
https://textaussage.de/deutsche-literaturgeschichte-themenseite
— - Übersicht über unsere Themenseiten auf textaussage.de
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— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
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