Johann Peter Hebel, „Eine sonderbare Wirtszeche“ – oder die Frage, was man aus alten Geschichten lernen kann (Mat1096)

Johann Peter Hebel, „Eine sonderbare Wirtszeche“

Zum Autor

Johann Peter Hebel ist vor allem bekannt geworden duch sein „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“. In ihm wurden allerlei seltsame Geschichten gesammelt, die früher viel in Lesebüchern gestanden haben und Stoff boten für Diskussionen – und manchmal ging man aus der Lektüre auch schlauer hinaus, als man hineingegangen war.

Die Geschichte – Stück für Stück erklärt

Wir zeigen an einem Beispiel, wie es mit dem möglichen „Nutzen“ dieser Kalendergeschichten aussieht.

Der Originaltext in kursiver Schrift.
Eingeschoben die Erläuterungen

Johann Peter Hebel

Eine sonderbare Wirtszeche.

Abschnitt 1:
Manchmal gelingt ein mutwilliger Einfall, manchmal kostet’s den Rock, oft sogar die Haut dazu. Diesmal aber nur den Rock.“

In heutigem Deutsch:
„Manchmal klappt ein verrückter Plan, manchmal verliert man dabei seinen Mantel, und manchmal sogar das Leben. Diesmal ging nur der Mantel verloren.“

Abschnitt 2:
„Denn obgleich einmal drei lustige Studenten auf einer Reise keinen roten Heller mehr in der Tasche hatten, alles war verjubelt.“

In heutigem Deutsch:
„Es war einmal so, dass drei fröhliche Studenten auf einer Reise unterwegs waren und überhaupt kein Geld mehr hatten, weil sie alles für Spaß und Vergnügen ausgegeben hatten.“


Abschnitt 3:
„So gingen sie doch noch einmal in ein Wirtshaus und dachten, sie wollten sich schon wieder hinaushelfen und doch nicht wie Schelmen davonschleichen.“

In heutigem Deutsch:
„Trotzdem gingen sie in ein Gasthaus und überlegten, wie sie es schaffen könnten, ohne wie Diebe davonzulaufen.“


Abschnitt 4:
„Und es war ihnen gar recht, daß die junge und artige Wirtin ganz allein in der Stube war.“

In heutigem Deutsch:
„Es war gut für ihren Plan, dass die junge und freundliche Wirtin allein im Gastraum war.“


Abschnitt 5:
„Sie aßen und tranken gutes Mutes und führten miteinander ein gar gelehrtes Gespräch, als wenn die Welt schon viele tausend Jahre alt wäre und noch ebenso lang stehen würde, und daß in jedem Jahr, an jedem Tag und in jeder Stunde des Jahres alles wieder so komme und sei, wie es am nämlichen Tag und in der nämlichen Stunde vor sechstausend Jahren auch gewesen sei.“

In heutigem Deutsch:
„Die drei Studenten aßen und tranken fröhlich und taten dabei so, als würden sie eine hochwissenschaftliche Diskussion führen. Sie sprachen darüber, dass die Welt schon viele tausend Jahre alt sei und sich alles immer wieder genau gleich wiederhole – zu jeder Zeit, an jedem Tag und in jeder Stunde, so wie es angeblich schon vor sechstausend Jahren war.“


Abschnitt 6:
„‚Ja,‘ sagte endlich einer zur Wirtin – die mit einer Strickerei seitwärts am Fenster saß und aufmerksam zuhörte – ‚ja, Frau Wirtin, das müssen wir aus unseren gelehrten Büchern wissen.‘“

In heutigem Deutsch:
„Einer der Studenten sagte schließlich zur Wirtin, die mit ihrem Strickzeug am Fenster saß und ihnen interessiert zuhörte: ‚Ja, Frau Wirtin, so etwas wissen wir natürlich aus unseren klugen Büchern.‘“


Abschnitt 7:
„Und einer war so keck und behauptete, er könne sich wieder dunkel erinnern, daß sie vor sechstausend Jahren schon einmal dagewesen seien, und das hübsche freundliche Gesicht der Frau Wirtin sei ihm noch wohl bekannt.“

In heutigem Deutsch:
„Einer der Studenten war besonders dreist und meinte, er könne sich vage daran erinnern, dass sie vor sechstausend Jahren schon einmal genau dort gewesen seien und dass ihm das hübsche, freundliche Gesicht der Wirtin immer noch bekannt vorkäme.“


Abschnitt 8:
„Das Gespräch wurde noch lange fortgesetzt, und je mehr die Wirtin alles zu glauben schien, desto besser ließen sich die jungen Schwenkfelder den Wein und Braten und manche Brezel schmecken.“

In heutigem Deutsch:
„Die Unterhaltung ging noch lange weiter, und je mehr es so aussah, als würde die Wirtin ihnen glauben, desto mehr genossen die Studenten Wein, Braten und Brezeln.“


Abschnitt 9:
„Bis eine Rechnung von 5 fl. 16 kr. auf der Kreide stand.“

In heutigem Deutsch:
„Am Ende hatten sie eine Rechnung von 5 Gulden und 16 Kreuzern auf ihrer Tafel stehen.“


Abschnitt 10:
„Als sie genug gegessen und getrunken hatten, rückten sie mit der List heraus, worauf es abgesehen war.“

In heutigem Deutsch:
„Als sie fertig mit Essen und Trinken waren, kamen sie schließlich mit ihrem geplanten Trick heraus.“

Abschnitt 11:
„‚Frau Wirtin,‘ sagte einer, ‚es steht diesmal um unsere Batzen nicht gut, denn es sind der Wirtshäuser zu viele an der Straße.‘“

In heutigem Deutsch:
„‚Frau Wirtin,‘ sagte einer der Studenten, ‚wir haben diesmal leider kein Geld mehr, weil es auf dieser Straße einfach zu viele Gasthäuser gibt.‘“


Abschnitt 12:
„‚Da wir aber an Euch eine verständige Frau gefunden haben, so hoffen wir als alte Freunde hier Kredit zu haben, und wenn’s Euch recht ist, so wollen wir in sechstausend Jahren, wenn wir wieder kommen, die alte Zeche samt der neuen bezahlen.‘“

In heutigem Deutsch:
„‚Aber da Ihr eine so kluge Frau seid, hoffen wir, dass Ihr uns als alte Freunde auf Kredit vertraut. Wenn es für Euch in Ordnung ist, zahlen wir unsere alte und die neue Rechnung in sechstausend Jahren, wenn wir wiederkommen.‘“


Abschnitt 13:
„Die verständige Wirtin nahm das nicht übel auf, war’s vollkommen zufrieden und freute sich, daß die Herren so vorlieb genommen.“

In heutigem Deutsch:
„Die kluge Wirtin nahm das mit Humor, war damit völlig einverstanden und freute sich, dass die Herren mit ihrem Gasthaus so zufrieden waren.“


Abschnitt 14:
„Stellte sich aber unvermerkt vor die Stubentüre und bat, die Herren möchten nur so gut sein und jetzt einstweilen die 5 fl. 16 kr. bezahlen, die sie vor sechstausend Jahren schuldig geblieben seien, weil doch alles schon einmal so gewesen sei, wie es wieder komme.“

In heutigem Deutsch:
„Doch dann stellte sich die Wirtin unauffällig vor die Tür des Gastraums und bat die Herren, zunächst die 5 Gulden und 16 Kreuzer zu bezahlen, die sie angeblich vor sechstausend Jahren nicht bezahlt hatten, da sich ja alles immer wieder genau gleich wiederholen soll.“


Abschnitt 15:
„Zum Unglück trat eben der Vorgesetzte des Ortes mit ein paar braven Männern in die Stube, um miteinander ein Glas Wein in Ehren zu trinken.“

In heutigem Deutsch:
„Unglücklicherweise kam gerade der Bürgermeister des Ortes mit ein paar ehrenwerten Männern herein, um gemeinsam ein Glas Wein zu trinken.“


Abschnitt 16:
„Das war den gefangenen Vögeln gar nicht lieb. Denn jetzt wurde von Amts wegen das Urteil gefällt und vollzogen: Es sei aller Ehren wert, wenn man sechstausend Jahre lang geborgt habe.“

In heutigem Deutsch:
„Den Studenten gefiel das überhaupt nicht. Denn nun wurde offiziell beschlossen und sofort umgesetzt: Es sei zwar bewundernswert, wenn jemand sechstausend Jahre lang Schulden gemacht habe.“


Abschnitt 17:
„Die Herren sollten also augenblicklich ihre alte Schuld bezahlen oder ihre noch ziemlich neuen Oberröcke in Versatz geben.“

In heutigem Deutsch:
„Die Studenten mussten entweder sofort ihre alte Schuld begleichen oder ihre ziemlich neuen Mäntel als Pfand hinterlassen.“


Abschnitt 18:
„Dies letzte mußte geschehen, und die Wirtin versprach, in sechstausend Jahren, wenn sie wieder kommen und besser als jetzt bei Batzen seien, ihnen alles, Stück vor Stück, wieder zuzustellen.“

In heutigem Deutsch:
„Die Studenten hatten keine andere Wahl und mussten ihre Mäntel abgeben. Die Wirtin versprach ihnen jedoch, alles zurückzugeben – in sechstausend Jahren, wenn sie zurückkämen und mehr Geld hätten als jetzt.“


Dies ist geschehen im Jahr 1805 am 17. April im Wirtshause zu Segringen.

  • Hier tut der Autor so, als sei diese Geschichte wirklich geschehen.
  • Darauf kommt es aber gar nicht an – Hauptsache, sie ist unterhaltsam – so ähnlich wie eine Anekdote.

Anmerkungen zu der Geschichte

Sie beginnt mit einer allgemeinen Lebensweisheit, die deutlich machen soll, dass „ein mutwilliger Einfall“ eben auch seinen Preis haben kann. Deutlich wird hier schon eine ziemlich konservative Einstellung, die Leute eher abschrecken soll, irgendeinen Unsinn zu machen.
Anzuerkennen ist immerhin, dass die Studenten sich nicht einfach davonschleichen wollen, sondern auf ihre Intelligenz setzen. Es gibt ja viele Geschichten , in denen Leute mehr oder weniger für dumm verkauft werden.
Der Einfall besteht darin, dass sie von der angeblichen Wiederkehr aller Ereignisse in einem 6000-Jahre-Rhythmus schwafeln und damit auch einen gewissen Eindruck machen.
Sie wenden das dann auf ihren Fall an, um möglichst ohne Bezahlung der Zeche davonzukommen.
Wichtig für den Leser ist hier, dass nur die Rede davon ist, dass „die Wirtin alles zu glauben schien“ – damit geht diese Geschichte schon mal nicht in eine Richtung, die es in manch anderen Geschichten gibt, in denen die den Frauen damals vorenthaltene Bildung zu ihrem Nachteil ausgenutzt wird.
Scheinbar kommen dann die Studenten auch mit ihrer Nummer durch.
Allerdings handelt es sich um eine „verständige“, also kluge Wirtin. Sie nimmt das durchaus ernst, was ihr gesagt worden ist – bzw. nutzt es, um nun die angebliche Forderung von vor 6000 Jahren anzubringen.
Von Vorteil für sie ist es, dass sie Verstärkung von ein paar Männern bekommt.
So läuft es letztens darauf hinaus, was schon am Anfang angedeutet worden ist, dass die Studenten ihre Oberröcke, also die Mäntel abgeben sollen, die wohl einen größeren Wert darstellen als das, was sie gegessen und getrunken haben.

Als Lehre könnte man formulieren:

Wenn du schon versuchst, die andere Seite zu überlisten, dann musst du auch die Sache so weit durchdenken, dass du nicht am Ende der Überlistete bist.
Vielleicht ist die Lehre aber auch konservativer im Sinne von:
„Unrecht Gut (oder Handeln) gedeihet nicht.“
Gemeint ist damit: Wenn man auf unfaire Weise etwas bekommt, dann wird da nichts Gutes draus.
Spannend ist die Frage, inwieweit mit solchen Geschichten wirklich ein stärker moralisches Verhalten der Menschen erreicht werden kann.
Außerdem ist die Frage auch spannend, wie heute Deutschbücher versuchen, Schüler in einem positiven Sinne zu beeinflussen – etwa gegen Rassismus und/oder Fremdenfeindlichkeit.

Weitere Infos, Tipps und Materialien