Video: Heine erlebt Romantik als „wüsten Traum“, gezeigt an zwei Gedichten (Mat7238-video)

Worum es hier geht:

Wir zeigen hier an zwei Gedichten, wie Heinrich Heine sich von der Romantik entfernt, sie sogar mehr oder weniger ironisch „auf die Schüppe“ nimmt, also deutlich in Frage stellt.

Zur Situation, in der wir das Video aufgenommen haben
  • •Das mündliche Abitur dürfte jetzt – im Mai 2024 – ziemlich vorbei sein.
  • Oder auch nicht? 😉
  • Dann kann man sich vielleicht ein bisschen mit zwei Gedichten von Heinrich Heine entspannen.
  • Sie nämlich recht einfach zu verstehen, wenn man weiß,
    • dass Heine als Romantiker begonnen hat,
    • dann aber gewissermaßen „das romantische Handtuch“ geschmissen hat 😉
    • Eine etwas schräge Formulierung, die aber zu der Haltung der beiden Gedichte passt – natürlich dort in viel schönerer Sprache.
  • Das Gedicht stammt aus der Gedichtsammlung des Lyrischen Intermezzo (1822–1823), die in der Gedichtsammlung „Buch der Lieder“ veröffentlicht wurde und trägt dort die Nummer LVIII.
    •Gefunden haben wir z.B. hier:https://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/BdL/Lyr-58.html
  • Schauen wir uns das Gedicht mal genauer an.
Video und Dokumentation:
Videolink

Möglichst unbefangen rangehen
  • Wie immer vergessen wir am besten alles, was wir eben gesagt haben – und tun so, als würden wir gerade das Thema „Romantik“ im Unterricht behandeln – und die Lehrkraft teilt dieses Gedicht aus mit dem doppeldeutigen Hinweis:
  • „Hier habe ich noch ein Gedicht aus der Zeit gefunden. Schaut mal, wie es da mit den Motiven der Romantik aussieht.“
  • Das ist natürlich etwas hinterlistig, wie es sich für interessanten Unterricht gehört. Denn da wollen wir ja nicht immer das noch mal bestätigt sehen, was wir schon kennen.
  • Vielmehr haben wir Lust auf Neues, vielleicht auch etwas Freches.
  • Also Vorsicht – zumindest bei dieser Lehrkraft 😉 und natürlich bei einem Dichter wie Heinrich Heine.
Das erste Gedicht

Heinrich Heine
Der Herbstwind rüttelt die Bäume

1.Der Herbstwind rüttelt die Bäume,
2.Die Nacht ist feucht und kalt;
3.Gehüllt im grauen Mantel,
4.Reite ich einsam im Wald.

5.Und wie ich reite, so reiten
6.Mir die Gedanken voraus;
7.Sie tragen mich leicht und luftig
8.Nach meiner Liebsten Haus.

9.Die Hunde bellen, die Diener
10.Erscheinen mit Kerzengeflirr;
11.Die Wendeltreppe stürm ich
12.Hinauf mit Sporengeklirr.

13.Im leuchtenden Teppichgemache,
14.Da ist es so duftig und warm,
15.Da harret meiner die Holde –
16.Ich fliege in ihren Arm.

17.Es säuselt der Wind in den Blättern,
18.Es spricht der Eichenbaum:
19.Was willst du, törichter Reiter,
20.Mit deinem törichten Traum?

Beispiel für eine Strophen-Inhaltsangabe
  • Um all denen zu helfen, die Gedichtstrophen „inhaltlich zusammenfassen“ müssen, machen wir das mal.
  • In der 1. Strophe beschreibt das lyrische Ich seine Situation an einem windigen Herbsttag, an dem es bei schlechtem Wetter einsam durch den Wald reitet.
  • In der 2. Strophe geht es um seine Gedanken, die voraus zu seiner Liebsten eilen, was ihn in frohe Stimmung versetzt.
  • In der 3. Strophe kommt das lyrische Ich am Ziel an, anscheinend einem Schloss mit Dienern, wo er im Kerzenschein eine Wendeltreppe hinaufstürmt und sich dabei als typischer Reiter mit Sporen präsentiert.
  • In der 4. Strophe erreicht das lyrische Ich dann sein Ziel, ein mit Teppichen ausgestattes Zimmer, wo er sein Ziel, nämlich die Geliebte auch findet und ihr gleich in die Arme stürzt.
  • In der 5. Strophe macht das lyrische Ich dann deutlich, dass alles nur ein dummer Traum gewesen ist.
Analyse des Gedichtes unter Epochen-Aspekt
  • Schauen wir uns jetzt an, was man an dem Gedicht „analysieren“ kann.
    Wir bleiben erst noch beim Inhalt und bei der Sprache, wir waren ja in der Epoche der Romantik.
    Gleich am Anfang Natur pur, Nacht, Einsamkeit – alles Motive der Romantik, wenn auch ein bisschen düster und unangenehm.
  • In der 2. Strophe wird es dann schon ein bisschen „heinischer“, um mal den Namen des Dichters zu einem neuen Wort zu verarbeiten: In Gedanken ist alles harmonisch – bis hin zur „Alliteration“, dem schönen Gleichklang von „leicht“ und „luftig“, was auch zur „Liebsten“ passt.
  • Die 3. Strophe präsentiert dann wieder romantische Umgebung: bellende Hunde, Diener mit Kerzen, eine Wendeltreppe und Dinge, die gut zu einem Ritter passen.
  • Dann nähern sich beide Welten einander an: Die Umgebung und die schönen Gedanken, die vorher schon da waren. Natürlich ist dann auch die Geliebte da, der man in die Arme stürzen kann.
  • Am Ende dann – typisch für viele Heine-Gedichte der Bruch: Alles ist nur ein Traum gewesen – und das kann man natürlich auch für Heines Umgang mit der Epoche der Romantik beziehen. Sie ist noch da – aber nur noch in Gedanken.
  • Der halbe Kreuzreim passt übrigens sehr gut zu dieser nur noch halben Romantik.
Das zweite Gedicht

Heinrich Heine
1.Mein Herz, mein Herz ist traurig,
2.Doch lustig leuchtet der Mai;
3.Ich stehe, gelehnt an der Linde,
4.Hoch auf der alten Bastei.

5.Da drunten fließt der blaue
6.Stadtgraben in stiller Ruh;
7.Ein Knabe fährt im Kahne,
8.Und angelt und pfeift dazu.

9.Jenseits erheben sich freundlich,
10.In winziger bunter Gestalt,
11.Lusthäuser, und Gärten, und Menschen,
12.Und Ochsen, und Wiesen, und Wald.

13.Die Mägde bleichen Wäsche,
14.Und springen im Gras herum:
15.Das Mühlrad stäubt Diamanten,
16.Ich höre sein fernes Gesumm.

17.Am alten grauen Turme
18.Ein Schilderhäuschen steht;
19.Ein rotgeröckter Bursche
20.Dort auf und nieder geht.

21.Er spielt mit seiner Flinte,
22.Die funkelt im Sonnenrot,
23.Er präsentiert und schultert —
24.Ich wollt, er schösse mich tot

Übergang zum zweiten Gedicht
  • Verlassen wir jetzt das düstere und auch etwas traurige Gedicht und wenden uns einem zweiten zu – das noch extremer ist.
  • In der 1. Strophe die Kombination aus traurigen Gefühlen – aus welchem Grund auch immer – und dann der schöne Mai, der sog. „Wonnemonat“, wo überall Freude aufkommen kann.
  • Typisch romantisch: Eine alte Bastei, eine Festung, vielleicht schon ein bisschen Ruine – passt zur Romantik.
  • Dann vier Strophen, die Romantik pur bieten:
    • zunächst der ruhig dahinfließende Stadtgraben,
    • eine Art Kanal, auf dem ein Junge im Kahn unterwegs ist, angelt und dazu pfeift (nur Angler wissen, ob das sinnvoll ist 😉
    • Dann schöne Häuser, Gärten und Menschen, die direkt neben Ochsel zu sehen ist – über diese Nähe freut sich vielleicht nicht mehr jeder.
    • Dann Wiesen und Wald – die romantische Harmonie ist wieder eindeutig.
    • Natürlich gibt es auch Mägde, die die Arbeit erledigen, so dass der romantische Dichter oben rumstehen kann.
    • Dann auch noch ein Mühlrad, das irgendwie auch zur Romantik gehört und einen fast in den Schlaf summt.
    • Dann der Blickwechsel zu einem grauen Turm, an dem ein Wachsoldat steht, der hin und her geht. Also für Ordnung und Sicherheit ist auch gesorgt.
    • Er scheint auch gut drauf zu sein – und spielt sogar mit seiner Flinte herum – und präsentiert sie dann auch vorschriftsmäßig.
    • Dann der Hammer: Hier holt Heine zum maximalen Schlag aus, mit dem er die ganze Idylle zertrümmert.
    • Er hat oder tut so, als habe er das Gefühl, jetzt am liebsten totgeschossen zu werden. Vielleicht erträgt er so viel romantische Schönheit nicht – auf jeden Fall ist es ihm zuviel.
  • Glücklicherweise hat Heine eine andere Lösung für sich gefunden, als sich totzuschießen – er macht das, was gute Künstler immer tun – er geht zu etwas Neuem über – eben zur Epoche des Vormärz.
Ein weiteres Gedicht zum Thema „Abschied von der Romantik“

„Nun ist es Zeit, dass ich mit Verstand“ (1823/24)

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