Kästner, „Eisenbahngleichnis“ – ein Gedicht mit Gleichnis-Charakter (Mat5316)

Worum es hier geht:

Wir gehen hier auf eins der tiefgründigsten Gedichte Erich Kästners ein.
In einer Art Gleichnis oder Parabel entwirft er ein Bild der Menschheit bzw. menschlicher Existenz, das nachdenklich macht und zur Diskussion einlädt.

Zu finden ist das Gedicht z.B. hier.

Einleitung

Das Gedicht „Eisenbahngleichnis“ wurde von Erich Kästner (1899–1974) verfasst, einem deutschen Schriftsteller, der vor allem durch seine Kinderbücher bekannt wurde, aber auch als scharfsinniger Gesellschaftskritiker in der Zeit der Weimarer Republik und darüber hinaus wirkte. Kästner gehört zur Neuen Sachlichkeit, einer literarischen Strömung der 1920er-Jahre, die sich durch eine klare, realitätsnahe Sprache und eine kritische Weltsicht auszeichnet.

Es handelt sich um ein lyrisches Gedicht mit Gleichnischarakter, in dem eine Zugfahrt als Metapher für das menschliche Leben und das Vergehen der Zeit dient. Das zentrale Thema ist die Sinnsuche in einer unübersichtlichen Welt, die Konfrontation mit dem Tod sowie die soziale Ungleichheit.


Äußere Form: Aufbau, Reim und Rhythmus

  • Das Gedicht besteht aus sieben fünfzeiligen Strophen (Quintetten).

  • Das Reimschema eher ungewöhnlich, weil hier ein dreifacher Reim mit einem zweifachen verbunden worden ist.
    Man müsste genauer untersuchen, ob dahinter ein System steckt mit einer Aussage.

  • Der Rhythmus ist nicht ganz regelmäßig.
    Schauen wir uns das bei der ersten Strophe mal genauer an:
    Wer übrigens Schwierigkeiten hat, den Rhythmus eines Gedichtes zu erkennen, kann sich dieses Video mal anschauen:
    Wir wenden das jetzt nämlich einfach auf die erste Strophe an.
    https://youtu.be/uDtBzhvVtFk

    • Wir sitzen alle im gleichen Zug
      x    X  x     X x  x   X    x      X
      Man sieht hier, dass der Trochäus an einer Stelle unterbrochen wird – wie wenn der Zug an der Stelle Fahrt aufnehmen würde.
    • und reisen quer durch die Zeit.
      x    X   x    X       x        x   X
    • Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
      x    X  x     x   X      x    X  x    x   X
    • Wir fahren alle im gleichen Zug.
      x   X    x     X x  x   X    x      X
    • Und keiner weiß, wie weit.
      x     X   x    X       x    X
      Hier ein regelmäßiger Jambus
    • Das müsste man für den Rest auch noch prüfen – aber es reicht, um deutlich zu machen, dass dieses Gedicht einen ganz eigenen Rhythmus hat – der zwischen „Marschier“-Elementen und „Tanz“-Elementen wechselt.
  • Die Sprache ist schlicht und zugänglich – typisch für die Neue Sachlichkeit.


Inhaltliche Analyse: Äußerungen des lyrischen Ichs und Leserlenkung

Strophe 1 (Z. 1–5)

„Wir sitzen alle im gleichen Zug …“

Das lyrische Ich beschreibt eine kollektive Reise, die alle Menschen gemeinsam unternehmen, ohne zu wissen, wohin sie führt. Der Zug als Metapher für das Leben oder die Zeit wird eingeführt.
🡺 Zwischenfazit: Der Leser wird auf eine gemeinsame, ungewisse Reise mitgenommen – eine existenzielle Grundfrage wird aufgeworfen.


Strophe 2 (Z. 6–10)

„Ein Nachbar schläft, ein andrer klagt …“

Die Passagiere symbolisieren verschiedene Reaktionen auf das Leben: Gleichgültigkeit, Klage, Geschwätzigkeit. Das Leben schreitet unaufhaltsam voran („der Zug, der durch die Jahre jagt“), doch ohne erreichbares Ziel.
🡺 Zwischenfazit: Die Ziellosigkeit des Lebens wird betont, ebenso wie die Vereinzelung trotz Gemeinschaft.


Strophe 3 (Z. 11–15)

„Wir packen aus, wir packen ein …“

Die Menschen handeln zwar, doch sinnentleert. Der Schaffner – vielleicht ein Symbol für Ordnung oder Führung – ist freundlich, aber weiß selbst nicht, wohin es geht.
🡺 Zwischenfazit: Es fehlt an Orientierung. Selbst Autoritäten geben keine Richtung vor.


Strophe 4 (Z. 16–20)

„Auch er weiß nicht, wohin er will …“

Die Zugsirene kündigt ein Anhalten an. Die Toten steigen aus – eine beklemmende Szene.
🡺 Zwischenfazit: Der Tod ist der einzige Halt in der Reise durch die Zeit. Er wirkt unausweichlich, aber nicht endgültig erklärend.


Strophe 5 (Z. 21–25)

„Ein Kind steigt aus, die Mutter schreit …“

Emotional besonders aufwühlend: Ein Kind stirbt. Die Toten „stehen stumm“ – Erinnerung an die Vergangenheit.
🡺 Zwischenfazit: Schmerz und Trauer werden greifbar. Die Reise geht weiter, ohne dass der Tod etwas erklärt hätte.


Strophe 6 (Z. 26–30)

„Die erste Klasse ist fast leer …“

Kritik an sozialer Ungleichheit: Die „feisten Herren“ in der ersten Klasse sind einsam, während die Mehrheit auf harten Holzbänken sitzt.
🡺 Zwischenfazit: Gesellschaftskritik wird deutlich – Reichtum schützt nicht vor existenzieller Einsamkeit.


Strophe 7 (Z. 31–35)

„Wir reisen alle im gleichen Zug …“

Die Eingangsstrophe wird variiert wiederholt – mit dem Zusatz: „und viele im falschen Coupé“.
🡺 Abschlussfazit: Trotz der gemeinsamen Reise ist vieles „verkehrt“ – Menschen leben nicht dort, wo sie hingehören.


Aussagen des Gedichts

Das Gedicht zeigt deutlich, dass:

  • das Leben eine Reise ist, deren Ziel und Sinn im Unklaren bleiben (Z. 1–5).

  • der Tod allgegenwärtig ist, aber keine Antworten liefert (Z. 16–25).

  • Menschen verschieden mit dieser Reise umgehen – mit Schlaf, Klage, Gerede, aber ohne echte Orientierung (Z. 6–10).

  • soziale Ungleichheit auch im „Zug des Lebens“ besteht, jedoch nicht zur Erfüllung führt (Z. 26–30).

  • die Mehrheit fehl am Platz ist, ihr Leben also möglicherweise nicht selbstbestimmt lebt (Z. 35).


Sprachliche und rhetorische Mittel

  • Metapher: Der Zug steht durchgängig für das Leben bzw. den Lebensweg.

  • Anapher: „Wir sitzen alle im gleichen Zug“ – zu Beginn und am Ende wiederholt (Z. 1 und 31) → Verstärkung des Gemeinschaftsgedankens.

  • Symbolik:

    • Der Schaffner – Symbol für eine höhere Ordnung oder Autorität, die aber auch nicht mehr weiß als die Passagiere.

    • Die Toten – Symbol für Vergänglichkeit und Erinnerungen.

  • Kontraste: Erste Klasse vs. Holzklasse → Sozialkritik.

  • Alltagssprache: Klar und nüchtern – typisch für die Neue Sachlichkeit.

Diese Mittel unterstützen die Aussagen, indem sie sie eindringlich und zugleich verständlich vermitteln.


Was kann man mit dem Gedicht anfangen?
  • Es eignet sich hervorragend, um über Sinnsuche, Vergänglichkeit und soziale Gerechtigkeit zu sprechen.

  • Es kann in Ethik-, Politik- oder Religionsunterricht thematisiert werden.

  • Besonders wertvoll ist die Diskussion über kollektive Erfahrungen und individuelle Positionen im Leben.

  • Im Unterricht könnte man über „mein Platz im Zug“ schreiben lassen: Wo sitze ich, wohin will ich?


Einschätzung der Qualität

Das Gedicht ist inhaltlich tiefgründig und sprachlich klar, mit starker Bildkraft. Es arbeitet mit einer einprägsamen Metapher, die Leser*innen emotional berührt und zum Nachdenken anregt.

Besonders stark:

  • Die universelle Gültigkeit der Bilder

  • Der Kontrast von Einfachheit der Sprache und Tiefe der Aussage

  • Die beklemmende Wirkung der Stille und Ziellosigkeit

Gesamturteil:
Ein sehr gelungenes Gedicht, das zeitlos aktuell bleibt und auf vielen Ebenen lesbar ist.


Mias persönliche Reaktion (fiktive Schülerin)

Dies soll helfen, wenn man direkt zu einem Gedicht Stellung nehmen soll.

  • Ich finde die Idee mit dem Zug total spannend – das macht das Leben irgendwie greifbar.

  • Die Stelle mit dem Kind hat mich echt getroffen – das war richtig traurig.

  • Irgendwie fühlt sich das Gedicht ganz schön hoffnungslos an … vielleicht zu pessimistisch?

  • Ich frage mich, ob „der Schaffner“ für Gott stehen könnte oder einfach für irgendeine Autorität.

  • Ich habe das Gefühl, dass die Leute im Gedicht alle aneinander vorbeileben – das ist auch in echt oft so.

  • Die Sache mit dem „falschen Coupé“ fand ich richtig gut – das kennt man ja, wenn man sich im Leben fehl am Platz fühlt.

  • Ich hätte Lust, selbst mal zu schreiben, „wo ich im Zug sitze“ – das könnte eine coole Aufgabe sein.

  • Die Sprache ist echt verständlich – das ist mal ein Gedicht, das man nicht 3x lesen muss, um es zu kapieren.

  • Trotzdem wirkt es tief – obwohl es so einfach ist. Das ist schon krass.

  • Ich könnte mir vorstellen, dass man das auch in einem Theaterstück umsetzen könnte – so mit einem Bühnen-Zug.

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