Kafka, „Der Prozess“ – Vergleich mit Justiz und Terror im Stalinismus (Mat2080-vrs)

Worum es hier geht:

Die Parallelen zwischen Josef K.s absurdem Prozess und den Methoden totalitärer Regime wie dem Stalinismus sind ein häufig diskutiertes Thema in der Wissenschaft. Ein zentraler Aspekt ist dabei die unklare und nie konkret formulierte Anklage.

Für Parallelen zwischen Roman und politischem System  gibt es zahlreiche Belege und Analysen, insbesondere im Kontext der “Großen Säuberung” und der Moskauer Schauprozesse in der Sowjetunion der 1930er Jahre.

Kurz zu Stalin: Er machte sich zum Nachfolger Lenins nach der russischen Revolution und wurde zum allmächtigen Diktator, der das Land auf Kosten vieler Menschen zwangsindustrialisierte und seine Macht durch ein extremes Terrorsystem absicherte.

Ein zentrales Merkmal des stalinistischen Terrors war die Methode, Geständnisse durch Folter und psychologischen Druck zu erpressen, oft für Verbrechen, die nie stattgefunden haben. Die Anklage war dabei bewusst vage gehalten. Dies diente einem doppelten Zweck:

  • Verunsicherung und Zermürbung: Wie Josef K. im “Prozess” wussten die Angeklagten oft nicht, was genau ihnen vorgeworfen wurde. Diese Ungewissheit zermürbte sie und machte sie anfälliger für die Forderungen der Ankläger.
  • Informationsgewinnung: Die Geheimpolizei (NKWD) nutzte die Verhöre, um die Angeklagten dazu zu bringen, in ihrer Verzweiflung, die “richtige” Antwort zu geben, andere Personen zu denunzieren oder angebliche Verschwörungen zu “enthüllen”. So generierte der Terrorapparat selbst die “Beweise” und die nächsten Opfer, die er für seine Fortsetzung benötigte.
Konkretes Beispiel: Die Moskauer Schauprozesse (1936-1938)

Ein besonders deutliches Beispiel sind die Moskauer Schauprozesse. Hochrangige Parteifunktionäre und alte Bolschewiki wurden öffentlich angeklagt, Teil von “trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentren” zu sein. Damit wurde auf Größen der Partei verwiesen, die inzwischen in Ungnade gefallen waren.

  • Absurde Geständnisse: Die Angeklagten legten detaillierte Geständnisse über Sabotageakte, Spionage für ausländische Mächte und Mordpläne gegen Stalin ab. Diese Geständnisse waren unter Folter erpresst worden und entbehrten jeder Grundlage.
  • Vage Vorwürfe als Ausgangspunkt: Die Verhaftungen begannen oft mit dem pauschalen Vorwurf der “konterrevolutionären Tätigkeit” oder der “Volksfeindlichkeit”, ohne spezifische Taten zu benennen. Erst im Laufe der brutalen Verhöre wurden die Angeklagten gezwungen, diese vagen Anschuldigungen mit konkreten, aber erfundenen Details zu füllen.
  • Selbstbezichtigung in der Hoffnung auf Milde: Ähnlich wie Josef K. versucht, das undurchsichtige Gerichtssystem zu verstehen und zu navigieren, um sein Leben zu retten, versuchten viele Angeklagte im stalinistischen System, durch Kooperation und das Liefern der geforderten Geständnisse ihr Leben zu retten – meist vergeblich

Man kann durchaus zusammenfassend sagen, dass der stalinistische Terror geprägt war von grenzenloser Willkür, die für die Zeitgenossen oft unbegreiflich, ja absurd war.

Genau diese Beschreibung trifft auch auf die Welt zu, in der sich Josef K. wiederfindet. Sein Prozess beginnt mit dem berühmten Satz: “Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.” Dieser Satz fasst die Willkür und die grundlose Anschuldigung perfekt zusammen, die sowohl für Kafkas fiktiven Prozess als auch für den realen Terror des Stalinismus charakteristisch waren.

Ein Beispiel

Eines der erschütterndsten Beispiele für die Perversion der Justiz im stalinistischen System fand seinen Höhepunkt in der Tschechoslowakei im sogenannten Slánský-Prozess von 1952. Das Schicksal von Rudolf Slánský und seinen Mitangeklagten ist ein perfektes und tragisches Beispiel für einen Vergleich mit Kafkas Roman.

Das konkrete Beispiel: Der Slánský-Prozess (1952)

Wer war Rudolf Slánský?

Rudolf Slánský war kein Dissident, sondern ein überzeugter Kommunist und einer der mächtigsten Männer in der Tschechoslowakei. Als Generalsekretär der Kommunistischen Partei (KSČ) von 1945 bis 1951 war er maßgeblich am kommunistischen Umsturz von 1948 und der anschließenden Verfolgung von Regimegegnern beteiligt. Er war ein Architekt des Systems, das ihn am Ende verschlingen sollte.

Die absurde Anklage:

Auf direkten Druck Stalins und unter Anleitung sowjetischer Berater wurde eine massive Verschwörung konstruiert. Slánský und 13 weitere hochrangige Funktionäre (viele davon, wie Slánský selbst, jüdischer Herkunft) wurden im November 1951 verhaftet. Man warf ihnen vor, ein “staatsfeindliches Verschwörerzentrum” gebildet zu haben. Die Anklagepunkte waren ein groteskes Konstrukt aus sich widersprechenden Vorwürfen:

  • Trotzkismus und Titoismus: Angeblich wollten sie einen von Moskau unabhängigen, “titoistischen” Weg gehen.
    Tito hatte in Jugoslawien einen eigenen Weg zum Sozialismus eingeschlagen.
  • Zionismus: Gleichzeitig wurde ihnen eine “zionistische Verschwörung” im Dienste des Westens unterstellt, was dem Prozess einen stark antisemitischen Charakter gab.
  • Spionage für den Westen: Sie seien Agenten des “anglo-amerikanischen Imperialismus”.
  • Mordpläne: Slánský wurde sogar vorgeworfen, er habe geplant, den Präsidenten Klement Gottwald (einen engen Weggefährten) ermorden zu lassen.

Die Methoden – Die Zerstörung der Persönlichkeit:

Die Angeklagten wurden über ein Jahr lang in Isolationshaft gehalten und systematisch gefoltert. Die Methoden waren weniger auf rohe Gewalt als auf totale psychische Zerstörung ausgelegt:

  • Permanenter Schlafentzug
  • Endlose Verhöre und stundenlanges Stehen.
  • Gezielte Desinformation und psychologischer Druck

Das Ziel war, den Willen der Gefangenen vollständig zu brechen und sie dazu zu bringen, die ihnen vorgeworfenen, auswendig gelernten “Geständnisse” Wort für Wort aufzusagen

Der letzte “Dienst” an der Partei: Die Forderung nach der eigenen Hinrichtung

Hier zeigt sich die von Ihnen angesprochene, extreme Perversion am deutlichsten. Die Angeklagten waren ihr Leben lang darauf trainiert worden, dass die Partei immer recht hat und das Kollektiv über dem Individuum steht. Nach Monaten der Folter, völlig zermürbt und ihrer Persönlichkeit beraubt, sahen einige von ihnen ihren letzten möglichen “Dienst” an der Partei darin, die ihnen zugewiesene Rolle im Schauprozess perfekt zu spielen – selbst wenn diese Rolle die eines verräterischen Monsters war.

Im Prozess sagten die Angeklagten ihre einstudierten Geständnisse auf. Am Ende des Prozesses, als die Todesurteile verkündet wurden, nahmen die Verurteilten diese an und verzichteten auf Rechtsmittel. Rudolf Slánský selbst sagte nach der Urteilsverkündung, er habe die gerechte Strafe erhalten und verdiene sie. Dieses Verhalten war der letzte, makabre Beweis für den “Erfolg” der Gehirnwäsche: Die Opfer identifizierten sich vollständig mit der Logik ihrer Henker und bestätigten die absurden Anklagen, um einem höheren, wahnhaften Ziel – der vermeintlichen Stärkung der Partei durch die Eliminierung ihrer “Feinde” – zu dienen.

Elf der 14 Angeklagten, darunter Rudolf Slánský, wurden am 3. Dezember 1952 hingerichtet. Ihre Leichen wurden verbrannt und die Asche auf einem Feld verstreut Erst Jahre später, insbesondere im Zuge des Prager Frühlings 1968, wurden sie vollständig rehabilitiert.

Dieses Beispiel zeigt auf grausamste Weise die Parallele zu Kafkas Werk: Ein Mann wird aus unerfindlichen Gründen angeklagt, in ein undurchschaubares System hineingezogen und am Ende nicht nur physisch, sondern auch psychisch so weit zerstört, dass er sein eigenes absurdes Urteil als notwendig akzeptiert.

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