Kafka und seine Vorstellungs-Methode der Endlosigkeit der Unmöglichkeiten
Ausgangspunkt ist die Parabel „Die Vorüberlaufenden“
Gefunden haben wir den Text z.B. hier:
https://www.textlog.de/kafka/erzaehlungen/die-vorueberlaufenden
Franz Kafka
Die Vorüberlaufenden
- Leserlenkung:
Die Überschrift wirkt so, als ginge es um etwas Beliebiges, Alltägliches, zu dem man jetzt etwas sagen kann.
—
- Wenn man in der Nacht
- durch eine Gasse spazierengeht,
- und ein Mann, von weitem schon sichtbar
- — denn die Gasse vor uns steigt an und es ist Vollmond —,
- uns entgegenläuft,
- so werden wir ihn nicht aufpacken,
- selbst wenn er schwach und zerlumpt ist,
- selbst wenn jemand hinter ihm läuft und schreit,
- sondern wir werden ihn weiterlaufen lassen.
- Typisch für Kafka – ein Gedankenexperiment. Sein Erzähler stellt sich etwas vor.
- Es geht um eine Alltagssituation
- Und jemand läuft einem entgegen.
- Dann wird die Reaktion geschildert, die man für normal hält.
- Es geht um ein „aufpacken“ – wohl im Sinne von Hilfeleistung.
- Dann werden zwei mögliche Begleitumstände genannt, die zumindest fragwürdig sind, d.h. auf eine mögliche Hilfeleistung oder zumindest eben Nachfrage hinauslaufen.
- Am Ende dann die klare Feststellung, dass man nichts tun würde – man würde den Mann weiterlaufen lassen.
—
- Denn es ist Nacht,
- und wir können nicht dafür, daß die Gasse im Vollmond vor uns aufsteigt,
- und überdies, vielleicht haben diese zwei die Hetze zu ihrer Unterhaltung veranstaltet,
- vielleicht verfolgen beide einen dritten,
- vielleicht wird der erste unschuldig verfolgt,
- vielleicht will der zweite morden,
- und wir würden Mitschuldige des Mordes,
- vielleicht wissen die zwei nichts voneinander, und es läuft nur jeder auf eigene Verantwortung in sein Bett,
- vielleicht sind es Nachtwandler, vielleicht hat der erste Waffen.
- Interessant ist, dass die Hauptentschuldigung der Zeitpunkt ist, nämlich nachts.
- Offensichtlich soll hier ein entsprechendes vorsichtiges Mitdenken des Lesers aktiviert werden.
- Die folgende Entschuldigung ist aber schwach bis unsinnig – denn darum geht es nicht. Man sieht diesen Mann und steht in einer bestimmten Verantwortung. Die kann allerdings sehr unterschiedlich eingeschätzt werden.
- Die ersten beiden Erklärungen sind ziemlich schwach – denn nach Unterhaltung sieht das auch nicht aus.
- Und wenn sie einen dritten verfolgen, könnte es dafür einen guten Grund geben, der dazu führt, dass man sich an der Verfolgung beteiligt.
- Die nächsten beiden Überlegungen fordern geradezu Hilfeleistung heraus.
- Völlig unsinning ist die nächste Überlegung, dass man mitschuldig wird, wenn man hilft, einen Mord zu vereiteln.
- Die Schlussüberlegungen sind ebenso ziemlich unsinnig. Man merkt spätestens hier, dass es nur darum geht, mit irgendwelchen Überlegungen dem vielleicht notwendigen Handeln auszuweichen.
- Und endlich,
- dürfen wir nicht müde sein,
- haben wir nicht so viel Wein getrunken?
- Wir sind froh, daß wir auch den zweiten nicht mehr sehn.
- Im selben Stil geht es weiter: Es folgen zwei Begründungen, die bei jedem Gericht genauer geprüft würden, wenn es um unterlassene Hilfeleistung geht.
- Am Ende dann die Klarstellung: Eigentlich sollte nur gewartet werden, bis das Problem sich scheinbar von selbst löst, einfach verschwindet.
- Natürlich geschieht das nur optisch – real geht die Situation ja so weiter.
Alles in allem zeigt diese Geschichte, wie jemand sich selbst zum Unbeteiligten „zurechtdenkt“. Es geht einfach darum, dem Handeln auszuweichen.
Auf Überzeugungskraft der Überlegungen kommt es nicht an. Die durchaus nachvollziehbare Sorge, der Verfolgen könnte eine Waffe haben, wird von allerlei eingerahmt, das sehr fragwürdig aussieht.
Offensichtlich soll die Parabel Menschen zeigen (es ist von „man“ und dann von „wir“ die Rede), die sich nicht engagieren wollen, die aus ihrer Ruhe nicht herausgerissen werden wollen.
Das führt dazu, die Überschrift in Frage zu stellen, denn das eigentliche Thema sind nicht die „Vorüberlaufenden“, sondern der Sich-Zurückhaltende.
Zusammenfassende Auswertung:
- Natürlich kann man „mangelnde Zivilcourage“ beklagen. Allerdings wird nicht wirklich im Text deutlich gemacht, dass eine gefährliche Situation vorliegt. Das wiederum könnte deutlich machen, dass man nur soviel sehen und auch beschreiben will, dass man nicht handeln muss. Die Situation soll unklar bleiben.
- Interessant sind natürlich die zahlreichen „Vielleicht“-Sätze. Sie machen deutlich, wie man sich durch viel (und zum Teil sehr künstliches, wenig überzeugendes) Nachdenken über die Entscheidungssituation hinwegdenken kann.
- Interessant ist die Perspektive des Beobachters: Die „Wir“-Form sorgt für eine gewisse Allgemeingültigkeit, hinter der man sich verstecken kann. Möglicherweise soll auch der Leser in die Situation einbezogen werden, was von der eigenen Verantwortung ablenkt.
- Man kann natürlich auch argumentieren, dass der Text – und dahinter vielleicht Kafka selbste – Kritik an einer Gesellschaft übt, die wegschaut und sich nicht für andere verantwortlich fühlt. Aber wie gesagt: Es geht wohl mehr um den Sich-aus-der-Situation-Hinausdenkenden als um die Gesellschaft – von der erfahren wir nicht viel bis nichts.
- Auf jeden Fall eignet sich der Text als Ausgangspunkt für Diskussionen über moralisches Handeln und die Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft. Allerdings wird man dann schnell feststellen, dass es sinnvoller ist, sich über reale Fälle von „unterlassener Hilfeleistung“ auszutauschen und zu überlegen, was man tun kann oder auch tun muss.
- Natürlich kann man diese Parabel auch nutzen, um allgemeiner über psychologische Mechanismen wie Verdrängung und Rationalisierung nachzudenken.
- Auf jeden Fall lohnt es sich, diesen Text mit anderen Parabeln Kafkas zu vergleichen, in denen auch viele Überlegungen angestellt werden, die nicht zu mehr Klarheite führen, sondern eher ins Uferlose.
„Ein Bericht für eine Akademie“ – ein Affe ohne Ausweg?
- B. „Ein Bericht für eine Akademie“, wo ein Affe alle Möglichkeiten der Selbstbefreiung wegdenkt.
Quelle: Franz Kafka: Gesammelte Werke. Band 5, Frankfurt a.M. 1950 ff.. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005132746 - „Mit meinen heutigen Zähnen muß ich schon beim gewöhnlichen Nüsseknacken vorsichtig sein, damals aber hätte es mir wohl im Lauf der Zeit gelingen müssen, das Türschloß durchzubeißen. Ich tat es nicht. Was wäre damit auch gewonnen gewesen? Man hätte mich, kaum war der Kopf hinausgesteckt, wieder eingefangen und in einen noch schlimmeren Käfig gesperrt; oder ich hätte mich unbemerkt zu anderen Tieren, etwa zu den Riesenschlangen mir gegenüber flüchten können und mich in ihren Umarmungen ausgehaucht; oder es wäre mir gar gelungen, mich bis aufs Deck zu stehlen und über Bord zu springen, dann hätte ich ein Weilchen auf dem Weltmeer geschaukelt und wäre ersoffen. Verzweiflungstaten.“
„Eine kaiserliche Botschaft“ – ein Bote, der nicht wirklich vorwärts kommt
- Oder „Eine kaiserliche Botschaft“, wo deutlich wird, wie jeder Erfolg nur zu einem Ausblick auf ein neues Hindernis führt.
Quelle: Franz Kafka: Gesammelte Werke. Band 5, Frankfurt a.M. 1950 ff., S. 128-129. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000513269X
„Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor- aber niemals, niemals kann es geschehen –, liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten.“
Vor dem Gesetz: Ein Türhüter mit lauter „Hintermännern“?
- „Vor dem Gesetz“: Wo der Türhüter ausdrücklich darauf hinweist, dass nach ihm noch unendlich viele weitere Hindernisse kommen – was den Besucher endgültig verunsichert und sich in sein Schicksal fügen lässt.
Quelle: Franz Kafka: Gesammelte Werke. Band 5, Frankfurt a.M. 1950 ff., S. 120-122.
Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005132657
„Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. »Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.« Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.« Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt.“
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