Karin Beier, „Theater berauscht. Theater nervt“ – kritische Überprüfung eines rauschhaften Gedankenexperiments

Vorgestellt wird ein Text, in dem jemand mit praktischer Erfahrung im Theaterbereich das Einzigartige dieser Welt hervorhebt.

Gefunden haben wir den Text hier:
Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch für die Oberstufe. Nordrhein-Westfalen
Herausgegeben von Andrea Wagener und Angela Mielke,
1. Auflage, Cornelsen Verlag GmbH, Berlin 2024, S. 98
ISBN 978-3-06-061033-4

Näheres zur Autorin:
https://www.legimi.de/e-book-karin-beier-den-aufstand-proben-karin-beier,b338957.html

Vgl. auch ihr Buch:

Zusammenfassung und kritische Anmerkungen

Im Folgenden fassen wir die Abschnitte des Textes kurz zusammen und stellen auch Überlegungen zum kritischen Umgang mit dem Text an.

Wir halten es für sinnvoll, beides im Zusammenhang darzustellen, weil das das Verständnis und die Auseinandersetzung erleichtert.

  1. Der Text beginnt mit der Betonung des Live-Charakters der Theaterarbeit. Als Vorteil wird die Freiheit gesehen, sich keine Gedanken machen zu müssen, was bei der Betrachtung einer Aufzeichnung o.ä. passiert.
    • Das kann man sicher nachvollziehen, auch wenn das letztlich nur von den direkt Betroffenen auf der Bühne und auch im Publikum wirklich beurteilt werden kann.
    • Nachteil ist aber auf jeden Fall, dass besonders interessante Momente damit auch für immer verloren sind.
    • Außerdem geht ein gewisses Interesse an intensiver Auswertung und Nutzung etwa für den Deutschunterricht verloren, wenn es keine Aufzeichnung gibt – und damit sowohl die Möglichkeit der genaueren Analyse als auch späterer Verwendung.
  2. In einem zweiten Schritt wird die Freiheit dann genauer ausgeführt: Es geht um Dinge, die Wildheit ausstrahlen und auch gegen jede Art von herrschenden Normen verstoßen können.
    • Hier hätte man gerne genauer gewusst, was damit gemeint ist.
    • Wildheit und Normverstöße könnten auch im Publikum nicht gut ankommen und zu Vorwürfen führen. Die können aber ohne Aufzeichnung nicht so gut geklärt werden.
    • Gerade das Argument, dass solche außergewöhnlichen Momente neue Betrachtungsweisen ermöglichen können, spricht doch, sich das entsprechend nachträglich genauer anzuschauen.
    • Natürlich kann man hier anders argumentieren, dass manchmal eine Anregung erst richtig wirksam wird, wenn sie aus dem Gedächtnis und ansonsten frei weiterentwickelt wird.
  3. Anschließend wird ganz deutlich gemacht, dass die Autorin den Wert des Theaters nicht nur bei edlen Bemühungen, bei Beildung oder Reflexion sieht, auch nicht bei der Förderung der Auseinandersetzung mit Themen, sondern mit dem Dunklen, das zum Leben gehört. Es sollen sogar niedere Instinkte angesprochen werden. Ja, die Autorin gehet sogar soweit in Gewaltbereitschaft bis hin zum Bösartigen eine große Kraft sieht, die mit Lust verbunden sein kann. Sie sieht die Möglichkeit, im geschützten Raum der Bühne auch mal die Kontrolle zu verlieren, um die man sich sonst so bemühen muss. Hier sieht sie die alten Griechen die Möglichkeit der Katharsis, also der Bewältigung dieser niederen Triebe in einer Art Reinigung.
    • Hier wird es ganz schwierig, denn für gesellschaftliches Miteinander ist ja gerade Beherrschung und die Einhaltung von Normen gefragt.
    • Auch ist man etwas beunruhigt, was Tiefe und Weite der erprobten Normverletzung angeht, soll auch Pädophilie auf der Bühne ausprobiert werden?
    • Hier hätte Frau Beier genauer ausführen müssen, wie sie sich eine Alternative dazu praktisch vorstellt.
  4. Am Ende fasst sie noch mal zusammen, was für Grenzen sie auf der Bühne gerne überschreiten möchte.
    • Zunächst ist von den Regeln der politischen Correctness die Rede.
      Das ist ehrenwert, aber die Grenzen des Sagbaren haben sich in der letzten Zeit doch stark verengt – zumindest behaupten das viele.
    • Außerdem betont sie noch einmal, dass sie sogar böse sein möchte.
    • Auch das Recht, alles aus dem Kontext zu reißen, dürfte kaum der Wahrheitsfindung dienen.
    • Dann am Ende plötzlich der Rückzug auf den gesunden Menschenverstand. Der wird normalerweise nicht im Zusammenhang mit dem Reißen aller Stricke verbunden. Hier bleiben also viele Fragen offen.
  5. Insgesamt hat man den Eindruck,
    • dass hier jemand einem unbändigen, vielleicht sehr persönlichen Freiheitsdrang das Wort redet, ohne das konkret durchzuprüfen.
    • Auch die Wirkung solcher Grenzüberschreitungen beim Publikum wird zu wenig kritisch gesehen.
    • Ebenfalls wird zu wenig in Betracht gezogen, dass die meisten Menschen am Tag genug Ärger und Stress erleben und abends dann lieber etwas erbaut werden wollen.
    • Vielleicht war das Ziel der Klassik, die Menschen über das Bühnenerlebnis einer schönen Seele zu besseren, doch zielführender, auch wenn es häufig nicht geklappt hat.
    • Aber man kann Frau Beier natürlich zu gute halten, dass sie das hier auch im Text ausprobiert hat, was sie dem Theater zuspricht – und das darf sie natürlich, vor allem, wenn uns der gesunde Menschenverstand manches vorsichtiger angehen lässt, als es hier formuliert ist.
Anregungen:
  • Der Text ist besonders interessant, wenn man traditionelle Vorstellungen von den Bildungszielen des Theaters im Unterricht behandelt hat.
    Schillers „Ästhetische Erziehung“ der Menschen hin zur „schönen Seele“.
  • Außerdem kann der Text Anlass sein für ein vertieftes Nachdenken zwischen unmittelbaren Erlebnissen und solchen, die indirekt und zeitverzögert über Medien transportiert werden.
  • Auch kann man hier die berühmte Episode aus Max Frischs „Homo Faber“ heranziehen, in der ein Vater plötzlich mit letzten filmischen Aufzeichnungen vor dem Unfalltod seiner Tochter konfrontiert wird.
    S. 163: Eigentlich will Walter Faber nur seine beruflichen Reiseerfahrungen präsentieren. Dann aber eine falsche Filmspule und plötzlich muss ein Vater Filmclips sehen, die er auf der ersten und letzten Reise seiner Tochter Sabeth aufgenommen hat, bevor die durch einen Unfall zu Tode stürzte. Und immer das Bewusstsein:
    „Ihr Gesicht, das nie wieder da sein wird“
    „Ihr Körper, den es nicht mehr gibt.“
    „Ihre Augen, die es nicht mehr gibt.“
    „Ihre Hände, die es nirgends mehr gibt …“
    „Ihr Lachen, das ich nie wieder hören werde“
    „Sabeth nochmals auf der Mole draußen, sie steht jetzt, unsere tote Tochter, und singt, ihr Hände in den Hosentaschen, sie glaubt sich mutterseelenallein und singt, aber unhörbar – Ende der Spule.“
    Faber geht dann einfach ohne Erklärung: „Nur die Filme ließ ich zurück.“

Weitere Infos, Tipps und Materialien