Keine Angst mehr vor Gedichten (Mat8395)

Worum es hier geht:

  • Gedichte sind für viele Schülis eine der größten Herausforderungen des Deutschunterrichts.
  • Man versteht sie häufig entweder nur sehr langsam oder gar nicht.
  • Und dann kommt das, was bei Kurzgeschichten z.B. eigentlich genauso ist: Man soll etwas zu den Aussagen sagen
  • und dann noch das besondere Schreckgespenst der „sprachlichen Mittel“.

Im Folgenden wollen wir an einem kleinen (ausgedachten) Beispiel zeigen, mit welchen einfachen Maßnahmen ein Gedicht „knacken“ kann.

Wir haben unseren Autor Anders Tivag einfach mal gebeten, für uns ein kurzes Gedicht zu schreiben – und so was macht er einfach gerne. Weiter unten nennen wir auch die Website, auf der man mehr von ihm finden kann.

Das Beispielgedicht

Anders Tivag

Wirkliche Wärme

  1. Die Welt wird kälter jeden Tag.
  2. Und das liegt nicht am Winter.
  3. Es sind die Herzen, die die Kälte tragen.
  4. Was soll man tun?
  5. Ich weiß es nicht
  6. Es sind die Freunde,
  7. die uns Wärme bringen.
  8. Ihr Lächeln treibt die Kälte weg.

Tipp 1: Was wird da eigentlich präsentiert?

  • Am besten stellt man sich vor, dass einem in einem Gedicht jemand etwas sagt.
  • Diesen Jemand nennt man normalerweise das „lyrische Ich“.
  • Und die einfachste Möglichkeit ist jetzt zu beschreiben, was dieses lyrische Ich da macht.
  • Zum Beispiel kann es eine Situation schildern:
    • Es sind die Herzen, die die Kälte tragen.
  • Dann kommt zum Beispiel eine rhetorische Frage:
    • Was soll man tun?
  • Und dann die Antwort:
    • Ich weiß es nicht.
  • Es folgt ein Lösungsvorschlag:
    • Es sind die Freunde, die uns Wärme bringen.
  • Als Nächstes dann der Entschluss des lyrischen Ichs
    • Ich glaub, sind die Freunde, die uns helfen
  • Schließlich zum Schluss eine angedeutete Erklärung:
    • „Ihr Lächeln treibt die Kälte weg.“

Tipp 2: schwierige Stellen zu erklären versuchen

  • Dies ist jetzt zum Beispiel eine besonders wichtige Textstelle, die man erklären muss:
    Denn wieso treibt das Lächeln die Kälte weg.
  • Am besten stellt man sich einfach die entsprechende Situation vor.
    • Man ist ganz verzweifelt und besucht einen Freund oder eine Freundin.
    • Dort kann man zumindest erst mal sagen, was einen bedrückt.
    • Wenn dann ein Lachen käme, wäre das nicht so gut. In so einer blöden Situation denkt man gleich, man würde ausgelacht.
    • Aber ein Lächeln könnte man verstehen als Verständnis und auch als einen Hinweis, dass man gemeinsam dieses Problem lösen kann.
  • So etwas ist bei Gedichten ganz wichtig: Sie sind nämlich in der Regel ziemlich kurz gehalten, deuten vieles nur an.
  • Deshalb sind sie die schwierigsten, aber auch schönsten literarischen Texte: Es ist eben nicht alles schon umfassend gesagt. Als Leser oder Leserin kann man sich einbringen – und dann wird das Gedicht eigentlich erst komplett.
    Es gibt ja den schönen Satz: „Kunst entsteht im Auge des Betrachters.“ Auch ein Gedicht ist häufig erst mal nur eine Anregung.
  • Vielleicht kann man seine Deutsch-Lehrkraft ja mal darauf ansprechen. Dann wird vielleicht weniger gleich gefordert und damit Angst eingejagt. Sondern man gewöhnt sich daran, mit Gedichten auch locker, eben „entspannt“ umzugehen.

Tipp 3: Die Aussage(n) des Gedichtes verstehen

  • Wenn man die Äußerungen des lyrischen Ichs aufgenommen und ggf. auch erklärt hat, kann man sich überlegen, in welche Richtung sie gehen.
  • Auch hier gibt es einen einfachen Trick:
    • Man beginnt einfach mit dem Satz: „Das Gedicht zeigt“
    • und dann versucht man das auszudrücken, was sich im Gedicht zeigt.
    • Dabei sollte man daran denken, dass viele Gedichte durchaus mehrere Aussagen haben können.
  • In diesem Falle könnte man vielleicht sagen:
    Das Gedicht zeigt:

    1. zunächst einmal, dass es Situationen gibt, in denen man innere oder auch äußere Kälte intensiver spürt. Meistens passiert das, wenn wenig „inneres Feuer“ brennt. Wer sich zum Beispiel auf etwas freut, achtet zumindest nicht so sehr auf äußere Kälte – und innere spürt er gar nicht.
    2. Dann macht das Gedicht deutlich, dass diese Kälte häufig weniger an äußeren Temperaturen liegt als an den „Herzen“ der Menschen, die einem begegnen. Es reicht ja schon, wenn sie ihr Herz gar nicht zeigen. Das zeigt sich in der Regel schon am Gesichtsausdruck – und damit sind wir gleich beim Lächeln.
    3. Aber erst mal macht das Gedicht die Ratlosigkeit deutlich, in der Menschen sich befinden, wenn sie diese innere Kälte spüren.
    4. Deutlich wird dann Nachdenklichkeit: Zunächst ein „Ich weiß es nicht“ – und dann der Einstieg in eine positive Antwort.
    5. Ins Zentrum der Hilfe, der Rettung, der Aufhebung des inneren Kältegefühls werden die Freunde gestellt.
    6. Wichtig am Ende das Lächeln, nicht das leicht missverständliche Lachen. Es macht deutlich, dass man Verständnis hat und einem wohlgesonnen ist. Wenn man Glück hat, macht es sogar deutlich, dass der mögliche Grund für das innere Kältegefühl sich rasch wegschaffen lässt.

Tipp 4: Das Elend mit den „sprachlichen“ Mitteln

  • Wir kennen uns im Fach Deutsch und bei Gedichten ziemlich gut aus, aber dieser Schwerpunkt „sprachliche Mittel“ im Deutschunterricht löst bei uns gleich „innere Kälte“ aus.
  • Warum kann man nicht einfach fragen:
    Was hat sich der Autor einfallen lassen, um die Aussagen wirkungsvoll rüberzubringen.
  • Wir kennen einige Leute wie Anders Tivag und Lars Krüsand, die wunderschöne Gedichte und Kurzgeschichten schreiben. Und die haben ganz offen gesagt, dass sie nie über Metaphern, Antithesen, Ellipsen usw. nachdenken. Sie schreiben einfach so, wie es zum Inhalt passt.
  • Wir haben den Autor dieses Gedichtes mal gefragt – und er hat zurück gemailt:
    • Meine erste Idee war die Kälte, die man vor allem im Winter spürt, die aber weit über Minustemperaturen hinausgehen kann. Wer einsam ist oder sonst irgendeinen Kummer hat, kann nicht gut damit leben, wenn ihm kein Lächeln geschenkt und damit Wärme gezeigt wird. Einfach mal beim Warten auf den Bus auf die Leute achten. Glücklicherweise gibt es schöne Ausnahmen.
    • Bei mir beginnt ein Gedicht oder auch eine Kurzgeschichte eigentlich mit dem ersten Satz – so war es auch hier. Da war gleich die richtige Sprachmusik drin – und die nächsten Sätze kamen, ohne dass ich viel nachdachte.
    • Erst wenn ich anfange, als Deutschlehrer über das Gedicht nachzudenken, erkenne ich die Metapher und die Personifizierung im 3. Satz.
    • Auch bei der Frage denke ich keinen Moment an das Mittel der „rhetorischen Frage“. Natürlich sollten Schülis das kennenlernen – aber doch nicht drauf fixiert sein.
    • Dann der Gegensatz von Kälte in der ersten Strophe und Wärme in der zweiten. Diese – ich nenne sie gerne – strategischen Ideen sind für ein Gedicht viel wichtiger als die Metapher – die meisten davon sind sowieso „Alltagsmetaphern“, d.h. man spürt sie gar nicht mehr als Bilder, man benutzt sie einfach. Über sie nachzudenken macht eigentlich nur Sinn, wenn es besondere, neue Bilder sind.
    • Jeder kann ja mal überlegen, ob ihm bei diesem Gedicht so etwas absolut Neues einfällt.
    • So etwas nenne ich immer „taktische“ Mittel – das sind die Einfälle, die eine einzelne Textstelle mit etwas „Originalität“ aufladen (übrigens ein schöner Einfall, diese Metapher – „mit Originalität aufladen“.
    • Vor diesem Hintergrund ist die letzte Zeile wie gesagt am interessantesten:
      Das „Lächeln“ der Freunde „Lächeln treibt die Kälte weg“.
    • Da ist erst mal der Unterschied zwischen Lachen und Lächeln, der hier benutzt wird.
    • Dann wird dieses Lächeln in einen ziemlich kämpferischen Kontext gestellt. Jeder kann sich jetzt mal selbst überlegen, welche inneren Bilder bei ihm auftauchen, wenn er an das „Wegtreiben“ denkt.
    • Es ist sehr individuell, wenn mir persönlich dann Kafkas Geschichte „Der Kaufmann“ einfällt. Der Mann wird von fast schon krankhaften Vorstellungen verfolgt und will sie entsprechend mit Worten von sich treiben.
    • Die Geschichte muss man nicht kennen, das Beispiel zeigt nur, wie ein Wort oder eine Wendung seine Bedeutung am Ende erst bekommt, wenn man sich selbst dabei einbringt. Das ist das, was ich oben auf eurer Seite schon gefunden habe: „Kunst entsteht im Auge des Betrachters“ – und das gilt eben auch für das Verständnis eines Gedichtes.
    • So, das ist jetzt etwas ausführlicher geraten – aber ich rege mich eben immer auf, wenn Leute Schülis völlig falsche Vorstellungen vom Schreiben von Gedichten vermitteln. Ich habe jedenfalls am meisten über Literatur gelernt, wenn ich es selbst mal mit ihr versucht habe. 😉
    • P.S: Jetzt ist mir wieder etwas passiert, was immer wieder vorkommt. Die Überschrift – sie hat hier auch Bedeutung. Denn sie weist darauf hin, dass nur „wirkliche Wärme“ etwas gegen menschliche Kälte ausrichten kann. Auch hier muss wieder jeder selbst überlegen – ich hatte es schon geschrieben – und erst dann überlegt, was das Attribut „wirkliche“ hier eigentlich aussagt. Es ist ja eine Einschränkung: Es gibt Autos und einige sind auch noch bequeme Autos 😉
    • Mir fallen da Situationen ein, in denen Menschen lächeln, aber das reicht nicht weit. Man merkt das, wenn man jemanden freundlich anspricht – er lächelt – und dann merkt er, dass man etwas möchte oder braucht. Und schon verschwindet dieses Anfangslächeln und abweisende Kälte macht sich breit. Beispiel: Jemand aus dem Mehrfamilienhaus hat sein Auto etwas unglücklich geparkt – und so kann man den eigenen Wagen nicht mehr unterbringen. Warnleuchten an und kurz bei dem Betreffenden geklingelt – Lächeln, obwohl es schon 21:55 Uhr ist. Aber dann Übergang zu eisiger Ablehnung, als er merkt, dass er – um mir zu helfen – noch mal den Mantel anziehen und den Autoschlüssel holen müsste.
    • So, jetzt reicht es – aber so ist das bei Behelfsschriftstellern: Eine Frage reicht – und die Fantasie geht mit ihnen durch.
    • Aber ich hoffe, es ist hilfreich – und kann sogar der einen oder anderen Lehrkraft zu etwas mehr Entspannung verhelfen.

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