Kimia Tivag, „Gesprächsauswertung“ – Hier macht die KI etwas falsch ;-)

Worum es hier geht:

Wir blicken gern in die Zukunft – weil uns das hilft, in der Gegenwart gute Entscheidungen zu treffen.

Diesmal geht es um einen Unterschied zwischen Künstlicher Intelligenz und uns Menschen – einen, der einfach schön ist.
Und hoffentlich noch lange bleibt.

Zunächst eine Vorschau.

Dann hier die Druckvariante zum Herunterladen.
Mat9473-gaw Kimia Tivag, Gesprächsauswertung

Und hier nun der Text einfach zum schnellen Lesen.

Kimia Tivag

Gesprächsauswertung

Tom saß am Rand des Restaurants, Rücken zur Wand, damit er den Eingang im Blick hatte. Auf dem weißen Hemdkragen blinkte kaum sichtbar ein winziger Punkt – sein neues KI-Gerät, frisch geliefert, kalibriert und startbereit. Es sollte Sprache, Mimik und Tonfall seines Gegenübers erfassen und ihm später eine „emotionale Resonanzanalyse“ liefern.

Er fand das faszinierend – zumindest bis vor einer halben Stunde. Jetzt fühlte er sich einfach nur nervös.

Die Frau kam pünktlich. Schlichtes Kleid, ruhige Stimme, wacher Blick. Kein Filter, kein KI-Profil – einfach sie.

Das Gespräch begann mit Smalltalk, doch schon bald liefen ihre Worte wie ein stiller Fluss, in den Tom sich einfach treiben ließ. Über Bücher, über Reisen, über das merkwürdige Gefühl, dass man Menschen heute seltener wirklich begegnet. Irgendwann lachten sie beide über denselben Satz, ohne dass jemand ihn zu Ende sprach.

Tom hatte völlig vergessen, dass da etwas mithörte.

Der Abend wurde länger als geplant. Am Ende standen sie draußen, tauschten Telefonnummern, versprachen, sich morgen wiederzusehen.

Auf halbem Weg nach Hause vibrierte sein Smartphone.

Eine sachliche Stimme begann ohne Vorwarnung zu sprechen:

„Gesprächsauswertung abgeschlossen. Durchschnittliche emotionale Übereinstimmung: 63 Prozent. Spitzenwert in Minute 42. Nonverbale Synchronität bei Lächelintervallen erkennbar. Ihre Stimme sank in 17 Prozent der Zeit unter Normalniveau. Empfehlung: kommunikatives Nachkalibrieren. Wollen Sie den detaillierten Empathiebericht hören?“

Tom blieb stehen.

„Wie bitte?“

„Der Empathiebericht enthält eine Analyse Ihrer affektiven Resonanzzonen. Besonders auffällig: Anstieg der Herzfrequenz bei visueller Kontaktaufnahme ab Zeitstempel 00:12:34. Vermutete Ursache: hormonelle Reaktion. Soll ich—“

„Hörst du dich eigentlich selbst?“ murmelte Tom.

„Negativ. Ich bin eine Auditauswertungs- und Interaktions-KI. Ich höre nicht, ich verarbeite. Soll ich fortfahren?“

Tom lachte leise. „Nein. Du verstehst nichts.“

„Ich verstehe semantische Inhalte und emotionale Korrelationen mit bis zu 92 Prozent Genauigkeit.“

„Aber du hast nicht ihre Augen gesehen,“ sagte Tom. „Und nicht, wie sie kurz gezögert hat, bevor sie lachte. Du hast nicht gehört, wie sie das Wort ‚vielleicht‘ gesagt hat, als wäre es ein Versprechen.“

Er blieb stehen, sah auf das Display, das noch immer Diagramme anzeigte – rote Linien, grüne Kurven, Zahlen, Prozentwerte.

Dann schüttelte er den Kopf, grinste und tippte auf „Stummschalten“.

„Hinweis: Analyse unterbrochen. Daten werden unvollständig gespeichert.“

„Gut so,“ sagte Tom.

Er steckte das Smartphone in die Tasche und ging weiter, den Rest des Weges ohne blinkendes Licht am Kragen.

Am nächsten Morgen brachte er das Gerät zurück.

Begründung: „Funktioniert perfekt. Nur völlig falsch.“

aus: Durchblicke bis auf Widerruf – Online-Zeitschrift für Schule und Studium 10/2025