Die sog. „Reichenberger Rede“ Hitlers und seine Politik im Hinblick auf die Jugend
Die Rede ist u.a. hier zu finden.
Einleitung und Kontext
Es handelt sich um eine Rede Hitlers vor Angehörigen der Hitler-Jugend. Gehalten wurde sie am 2.12.1938 in Reichenberg, so hieß der Ort damals im sog. „Sudetenland“. Das war der Teil der damaligen Tschechoslowakei, in dem Deutsche als Minderheit lebten.
Dieses Gebiet wurde nach dem sogenannten Münchener Abkommen vom Sep 1938 von der Deutschen Wehrmacht besetzt.
Die Tschechoslowakei war dabei Objekt einer Konferenz, an der sie gar nicht beteiligt war, dessen Ergebnis sie aber aus machtpolitischen Gründen akzeptieren musste.
Gliederung der Rede
Wir haben die Rede in ihren gedanklichen Aufbau aufgegliedert, um leicht dazu etwas sagen zu können.
Die Rede entfaltet sich wie ein geschlossenes Erziehungs- und Indoktrinationsprogramm, das keinen Ausweg lässt:
- Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch
handeln,- (1) Einstieg: Die Jugend wird ausschließlich auf „deutsch denken und handeln“ geprägt – das Ziel wird sofort klar: totale ideologische Formung.
- und wenn nun diese Knaben, diese Mädchen mit ihren zehn
Jahren in unsere Organisationen hineinkommen - und dort so oft zum erstenmal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen,
- (2–3) Eintrittsalter und erste Erfahrungen: Mit zehn Jahren beginnt die Eingliederung in die nationalsozialistischen Organisationen. Hitler suggeriert eine Art „Befreiung“ durch frische Luft – das wirkt perfide wie eine Rettung.
- dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend,
- und dort behalten wir sie wieder vier Jahre,
- (4–5) Weiterführung in der HJ: Die Jugendlichen bleiben systematisch im Zugriff – jeweils vier Jahre. Eine lange Phase stabiler Indoktrination.
- und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen– und Standeserzeuger,
- sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront,
in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter.- (6–7) Kein Zurück mehr: Es folgt der Bruch mit bisherigen gesellschaftlichen Strukturen („Klassen- und Standeserzeuger“), ersetzt durch Parteistrukturen (Partei, SA, SS, NSKK).
- Und wenn sie dort zwei und anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten,
- dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen, alle mit einem Symbol: dem deutschen Spaten (Beifall).
- (8–9) Weitere Schleifung: Wer noch nicht vollständig „geformt“ ist, wird im Arbeitsdienst weiter bearbeitet – Symbol: „der deutsche Spaten“.
- Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an
Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder dort noch vorhanden
sein sollte, - das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren
Behandlung auf zwei Jahre (Beifall),- (10–11) Endgültige „Behandlung“: Reste von Klassenbewusstsein oder Individualität übernimmt die Wehrmacht zur „weiteren Behandlung“ – ein erschreckend medizinisch konnotierter Begriff.
- und wenn sie dann nach zwei oder drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort in die SA, SS und so weiter,
- und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben (Beifall),
- (12–13) Wiederaufnahme und vollständige Kontrolle: Auch nach dem Militärdienst werden die Menschen wieder ins System aufgenommen, „sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben“.
- und sie sind glücklich dabei.
- (14) Schlussfolgerung: Trotz dieser totalen Kontrolle – sie seien „glücklich dabei“. Die perfide Umdeutung von Freiheit in Zwang wird abgeschlossen.
Der Aufbau ist zirkulär: Vom Kind zur Parteisoldatenschaft, von dort zurück in die nächste Organisationsstufe. Das Individuum wird vollständig vereinnahmt.
Auswertung der Rede
Die zentrale Botschaft dieser Rede ist die totale ideologische und organisatorische Vereinnahmung der Jugend im Nationalsozialismus. Hitler beschreibt ein umfassendes System, das:
- früh beginnt (ab dem 10. Lebensjahr),
- kontinuierlich gesteigert wird (HJ, Partei, Arbeitsdienst, Wehrmacht),
- jede Rückkehr in alte Strukturen verhindert (Bruch mit Klassen, Ständen, Familien),
- und lebenslange Bindung fordert („sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben“).
Die Rede vermittelt ein geschlossenes, autoritäres Weltbild, in dem das Individuum zum Werkzeug des Staates umfunktioniert wird – und dies nicht als Zwang, sondern als Glück verkauft wird.
Rhetorische Mittel
Die Rede ist durchzogen von manipulativen Techniken:
- Kollektive Sprache / Wiederholung: „wir“, „unsere Organisationen“, „dann kommen sie“, „und dann“ – das erzeugt ein Gefühl von Ordnung, Konsequenz, Unvermeidlichkeit.
- Stufenlogik / Eskalationsprinzip: Jedes Stadium der Indoktrination wird als notwendiger Schritt präsentiert – was das System effizient und alternativlos erscheinen lässt.
- Bildsprache: „frische Luft“, „geschliffen“, „Behandlung“, „Symbol: der deutsche Spaten“ – das wirkt konkret und suggeriert körperliche wie geistige Formung.
- Beifallsmarkierungen: Im Transkript tauchen mehrfach „(Beifall)“-Hinweise auf – das verstärkt den Eindruck von Zustimmung und dient als Legitimation.
- Pseudorationalität: Die Rede wirkt wie ein rational durchgeplanter Entwicklungsprozess – dabei handelt es sich um totalitäre Gleichschaltung.
- Perfidie der Schlusswendung: „Und sie sind glücklich dabei.“ – Das verkehrt das totalitäre System in eine vermeintliche Quelle des Glücks.
Historische Bedeutung des Redeausschnitts
Diese Rede ist ein erschreckend offenes Dokument nationalsozialistischer Sozialisation. Sie zeigt:
- die systematische Gleichschaltung der Jugend im Sinne einer lückenlosen „Menschenformung“,
- die Bedeutung des Sudetenlandes für NS-Propaganda nach dem Münchner Abkommen,
- den Charakter des NS-Staats als totalitäres System, das sämtliche Lebensbereiche durchdringen will,
- und die propagandistische Selbstinszenierung Hitlers als jemand, der „Ordnung“ und „Sinn“ stiftet – in Wahrheit: ein Herrschaftssystem ohne Fluchtpunkt.
Im Kontext von 1938 – kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs und dem Münchener Abkommen – unterstreicht diese Rede auch die aggressiv expansive und ideologisch aufgeladene Außenpolitik des NS-Regimes.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Geschichte für Durchblicker – Überblick über Infos, Tipps und Materialien
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