Worum es hier geht:
Präsentiert wird der Anfang einer Novelle von Arthur Schnitzler, wobei der dort beschriebene Mann gut mit Werther aus Goethes Briefroman verglichen werden kann.
Aufgabenstellung:
- Analysieren Sie diesen Anfang der Novelle „Ein Abschied“ von Arthur Schnitzler“ unter dem Aspekt der Kurzgeschichten-Eigenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Offenheit des Schlusses.
- Nehmen Sie begründet Stellung zu der These, der Mann in diesem Novellenausschnitt könne im Hinblick auf die Beziehung mit Werther in Goethes Brief-Roman verglichen werden.
Quelle für den Ausschnitt: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 239-254. Erstdruck: Neue Deutsche Rundschau, VII. Jahrg., 2. Heft, Februar 1896.
Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005630614
Hier eine Druckvorlage dieser Klausuraufgabe:
Mat8693 Klausur Schnitzler Abschied
Auszug aus der Novelle „Ein Abschied“ – Anfang
Arthur Schnitzler
Ein Abschied
Eine Stunde wartete er schon. Das Herz klopfte ihm, und zuweilen war ihm, als hätte er vergessen zu atmen; dann zog er die Luft in tiefen Zügen ein, aber es wurde ihm nicht wohler. Er hätte eigentlich schon daran gewöhnt sein können, es war ja immer dasselbe; immer mußte er warten, eine Stunde, zwei, drei, und wie oft vergebens. Und er konnte es ihr nicht einmal zum Vorwurf machen, denn wenn ihr Mann länger zu Hause blieb, wagte sie sich nicht fort; und erst wenn der weggegangen war, kam sie hereingestürzt, ganz verzweifelt, ihm rasch einen Kuß auf die Lippen drückend, und gleich wieder davon, die Treppen hinunterfliegend, und ließ ihn wieder allein. Dann, wenn sie fort war, pflegte er sich auf den Divan zu legen, ganz matt von der Aufregung dieser entsetzlichen Wartestunden, die ihn unfähig zu aller Arbeit machten, die ihn langsam ruinierten. Das ging nun schon ein viertel Jahr lang so, seit dem Ende des Frühlings. Jeden Nachmittag von drei Uhr an war er in seinem Zimmer bei heruntergelassenen Rouleaus und konnte nichts beginnen; hatte nicht die Geduld, ein Buch, kaum, eine Zeitung zu lesen, war nicht imstande, einen Brief zu schreiben, tat nichts als Zigaretten rauchen, eine nach der andern, daß das Zimmer ganz im blaugrauen Dunste dalag. Die Tür zum Vorzimmer stand immer offen; und er war ganz allein zu Hause, denn sein Diener durfte nicht da sein, wenn sie kommen sollte; und wenn dann plötzlich die Klingel schrillte, fuhr er immer erschreckt zusammen. Aber wenn nur sie es war, wenn sie es nur endlich wirklich war, da war es ja schon gut! Da war ihm, als löste sich ein Bann, als wäre er wieder ein Mensch geworden, und er weinte manchmal vor lauter Glück, daß sie nur endlich einmal da war, und daß er nicht mehr warten mußte. Dann zog er sie rasch in sein Zimmer, die Tür wurde geschlossen, und sie waren sehr selig.
Es war verabredet, daß er täglich bis punkt sieben zu Hause zu bleiben hatte; denn nachher durfte sie gar nicht mehr kommen – er hatte ihr ausdrücklich gesagt, daß er um sieben immer weggehen[239] würde, weil ihn das Warten so nervös machte. Und doch blieb er immer länger zu Hause, und erst um acht pflegte er auf die Straße hinunterzugehen. – Dann dachte er schaudernd an die verflossenen Stunden und erinnerte sich mit Wehmut des vorigen Sommers, da er seine ganze Zeit für sich gehabt, an schönen Nachmittagen oft aufs Land gefahren, im August schon ins Seebad gereist, und gesund und glücklich gewesen war; – und ersehnte sich nach Freiheit, nach Reisen, nach der Ferne, nach dem Alleinsein, aber er konnte nicht weg von ihr; denn er betete sie an.
Heute schien ihm der ärgste von allen Tagen. Gestern war sie gar nicht gekommen, und er hatte auch keinerlei Nachricht von ihr erhalten. – Es war bald sieben; aber er wurde heute nicht ruhiger. Er wußte nicht, was er beginnen sollte. Das Entsetzliche war, daß er keinen Weg zu ihr hatte. Er konnte nichts anderes tun, als vor ihr Haus gehen und ein paarmal vor den Fenstern auf und ab spazieren; aber er durfte nicht zu ihr, durfte niemand zu ihr schicken, konnte sich bei niemandem nach ihr erkundigen. Denn kein Mensch ahnte nur, daß sie einander kannten. Sie lebten in einer ruhelosen, angstvollen und glühenden Zärtlichkeit hin und hätten gefürchtet, sich vor anderen jeden Augenblick zu verraten. Er fand es wohl schön, daß ihr Verhältnis in tiefster Verborgenheit fortdauerte; aber solche Tage, wie der heutige, waren um so qualvoller.
Es war acht Uhr geworden – sie war nicht gekommen. Die letzte Stunde war er ununterbrochen an der Türe gestanden und hatte durchs Guckfensterchen auf den Gang hinausgeschaut. Eben waren die Gasflammen auf der Stiege angezündet worden. Jetzt ging er in sein Zimmer zurück, und todmüde warf er sich auf den Divan. Es war ganz dunkel im Zimmer, er schlummerte ein. Nach einer halben Stunde erhob er sich und entschloß sich, fortzugehen. Er hatte Kopfschmerzen, und die Beine taten ihm weh, als wäre er stundenlang herumgelaufen.
Er nahm den Weg zu ihrem Hause. Es war ihm wie eine Beruhigung, als er die Rouleaus in allen Fenstern heruntergelassen sah. Durch die des Speisezimmers und die des Schlafzimmers schimmerte ein Lichtschein. – Er spazierte ein halbe Stunde auf dem gegenüberliegenden Trottoir hin und her, immer den Blick auf die Fenster geheftet. Die Straße war wenig belebt. Erst als sich einige Stubenmädchen und die Hausmeisterin vor dem Tore zeigten, entfernte er sich, um nicht aufzufallen. In dieser Nacht schlief er fest und gut.[240]
Am nächsten Vormittag blieb er lange im Bette liegender hatte einen Zettel ins Vorzimmer gelegt, man dürfe ihn nicht wecken. Um zehn Uhr klingelte er. Der Diener brachte ihm das Frühstück; auf der Untertasse lag die eingelaufene Post; von ihr war kein Brief da. Aber er sagte sich gleich, daß sie nun um so sicherer selber am Nachmittag bei ihm sein werde, und so verbrachte er die Zeit bis drei Uhr ziemlich ruhig.
Punkt drei, aber auch nicht eine Minute früher, kam er vom Mittagessen nach Hause. Er setzte sich auf einen Sessel im Vorzimmer, um nicht immer hin- und herlaufen zu müssen, wenn er ein Geräusch im Stiegenhaus vernahm. Aber er war ganz froh, wenn er nur überhaupt Schritte in der Flur unten hörte; es war doch immer wieder eine neue Hoffnung. Doch jede war vergebens. Es wurde vier – fünf – sechs – sieben – sie kam nicht. Dann lief er in seinem Zimmer hin und her und stöhnte leise, und als ihm schwindlig wurde, warf er sich aufs Bett. Er war völlig verzweifelt; das war nicht mehr zu ertragen – das beste: fort, fort – dieses Glück war doch zu teuer bezahlt! … Oder er mußte wieder eine Änderung treffen – z.B. nur eine Stunde warten – oder zwei – aber so konnte das nicht weiter gehen, da mußte alles in ihm zu Grunde gerichtet werden, die Arbeitskraft, die Gesundheit, schließlich auch die Liebe. Er merkte, daß er an sie überhaupt gar nicht mehr dachte; seine Gedanken wirbelten wie in einem wüsten Traum. Er sprang vom Bett herunter. Er riß das Fenster auf, sah auf die Straße hinab, in die Dämmerung …. Ah … da … dort an der Ecke … in jeder Frau glaubte er sie zu erkennen. Er entfernte sich wieder vom Fenster; sie durfte ja nicht mehr kommen; die Zeit war ja überschritten. Und plötzlich kam es ihm unerhört albern vor, daß er nur diese wenigen Stunden zum Warten bestimmt hatte. Vielleicht hätte sie gerade jetzt Gelegenheit gehabt …. vielleicht wäre es ihr heute vormittags möglich gewesen, zu ihm zu kommen – und schon hatte er auf den Lippen, was er nächstens sagen wollte, und flüsterte es vor sich hin: »Den ganzen Tag werde ich von jetzt an zu Hause sein und dich erwarten; von früh bis in die Nacht.« Aber wie er es ausgesprochen, begann er selbst zu lachen, und dann flüsterte er vor sich hin: »Aber ich werde ja toll, toll, toll!« – Wieder stürzte er zu ihrem Hause. – Es war alles wie gestern. Lichter schimmerten durch die geschlossenen Rouleaus. Wieder spazierte er eine halbe Stunde auf dem gegenüberliegenden Trottoir hin und her – wieder entfernte er sich, als die Hausmeisterin und[241] einige Dienstmädchen aus dem Tore traten. Es kam ihm heute vor, als sähen ihn die an, und er war überzeugt, daß sie sich über ihn unterhielten und sagten: Das ist derselbe Herr, der gestern hier um dieselbe Zeit auf und ab gegangen ist. Er spazierte in nahen Gassen umher, aber als es von den Türmen zehn Uhr schlug und die Tore geschlossen wurden, kam er wieder und starrte zu den Fenstern hinauf. Nur durch das letzte, wo das Schlafzimmer lag, schimmerte ein Lichtstrahl. Er sah hin wie gebannt. – Nun stand er hilflos da und konnte nichts tun und nicht fragen. – Ihn schauderte vor den Stunden, die ihm bevorstanden. Eine Nacht, ein Morgen, ein Tag bis drei Uhr. – Ja, bis drei – und dann … wenn sie wieder nicht käme? … Ein leerer Wagen fuhr vorbei, er winkte dem Kutscher und ließ sich in den nächtlichen Straßen langsam hin- und herfahren …. Er erinnerte sich des letzten Zusammenseins mit ihr … nein, nein, sie hatte nie aufgehört, ihn zu lieben – nein, das gewiß nicht! – Oder sollte man bei ihr zu Hause einen Verdacht gefaßt haben? … Nein, das war ja nicht möglich … es war bisher auch nicht eine Spur davon aufgetaucht – und sie war ja so vorsichtig. – Es konnte also nur einen Grund geben: sie war leidend und lag zu Bette. Und deswegen konnte sie auch keine Nachricht an ihn gelangen lassen … Und morgen würde sie aufstehen und vor allem anderen ein paar Zeilen an ihn senden, ihn zu beruhigen …. Ja, wenn sie aber erst in zwei Tagen oder noch später das Bett verlassen konnte … wenn sie ernstlich krank … um Himmels willen … wenn sie schwer krank wäre … Nein, nein, nein … warum denn gleich schwer krank! …
Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihm ein erlösender erschien. Da sie ganz sicher krank war, konnte er ja morgen zu ihr hinaufschicken und nach ihrem Befinden fragen lassen. Der Bote brauchte ja selbst nicht zu wissen, von wem er den Auftrag hatte – er konnte den Namen schlecht verstanden haben … Ja, ja, so sollte es geschehen! – Er war ganz glücklich, daß ihm dieser Einfall gekommen war.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
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