Kleist, „Der zerbrochene Krug“ – Einordnung des Dichters und der Epoche in die Epochen der Literaturgeschichte

Worum es hier geht:

Die Zuordnung des Dichters Kleist und damit auch seiner Komödie zu den Epochen der deutschen Literaturgeschichte ist schwierig – wie die folgenden Ausführungen zeigen.

Allgemeines

Heinrich von Kleist gilt in der deutschen Literaturgeschichte als Grenzgänger oder Außenseiter, dessen Werk sich einer eindeutigen Zuordnung zu den gängigen literarischen Epochen der Zeit um 1800 entzieht.

Überblick zur Epochenzuordnung Kleists

Die Einordnung Heinrich von Kleists ist seit Langem ein kontrovers diskutiertes Thema in der Literaturwissenschaft. Da sein Schaffen (ca. 1801–1811) zeitlich mit der Weimarer Klassik (ca. 1786–1805/1832) und der Romantik (ca. 1795–1835) zusammenfällt, stehen Forscher oft vor der Wahl, ihn der streng formalen Klassik oder der sehnsuchtsvoll realitätsfernen Romantik zuzurechnen. Kleist wird jedoch häufig als Dichter zwischen den Zeiten beschrieben, der zu beiden Strömungen Distanz wahrte.

  • Weimarer Klassik: Werke der Klassik strebten nach Harmonie, Humanität, Ausgleich zwischen Gefühl und Vernunft sowie ästhetischer Erziehung. Kleist stellt die Ideale der Klassik, wie sie von Goethe und Schiller vertreten wurden, auf den Prüfstand. Er ist weder dezidierter Erbe noch Gegner dieser Epoche.
  • Romantik: Kleist bewegte sich zwar in Kreisen der Romantiker (z. B. in Dresden und Berlin), stand deren Ästhetik und gesellschaftlichen Vorstellungen jedoch kritisch gegenüber. Elemente der Romantik zeigen sich in seinem Werk durch die Darstellung individueller Konflikte und eine tiefe psychologische Durchdringung der Charaktere.
  • Zwischen den Stühlen und darüber hinaus: Viele Analysen betonen, dass Kleist in seinen Werken die klassischen Stilprinzipien in hohem Maße verletzt und stattdessen das Besondere, Extreme und Grausame in den Vordergrund rückt. Sein Schaffen wird als post-aufklärerisch und radikal modern betrachtet, da er philosophische und ästhetische Programme seiner Zeit untergräbt. Er gilt als Vorkämpfer der Moderne und seine Werke waren ihrer Zeit voraus.

Komplexe Epochen-Zuordnungen in „Der zerbrochne Krug“

Die Komödie „Der zerbrochne Krug“ (entstanden 1803–1806, veröffentlicht 1811) selbst wird als Werk zwischen Weimarer Klassik und Romantik eingestuft. Die komplexen Epochen-Zuordnungen zeigen sich in Form, Inhalt und Symbolik des Stücks:

  1. Klassische Form versus subversive Thematik

Obwohl Kleist mit dem Zerbrochnen Krug formal die Gattung Lustspiel/Komödie wählt, die als Höhepunkt in dieser Epoche gilt, und er eine scheinbar geschlossene dramatische Form verwendet, dient diese Struktur der scharfsinnigen Satire auf die Justiz und die Korruption.

  • Klassischer Ansatz wird unterlaufen: Das klassische Ideal strebt nach Gerechtigkeit und moralischer Vervollkommnung des Menschen. Kleist stellt dieses Ideal auf die Probe, indem er Dorfrichter Adam, der die Gerechtigkeit gewährleisten sollte, selbst zum Schuldigen macht.
  • Ideendrama-Ansatz verfehlt: Im Gegensatz zum klassischen Ideendrama, das einen zentralen ethischen Wert in den Mittelpunkt stellt, der Allgemeingültigkeit beansprucht, zeigt Kleist die moralische Verkommenheit und die Heuchelei der Justiz. Adam versucht, die Wahrheit mit Lügen und Täuschung zu verschleiern.
  1. Der „zerbrochne Krug“ als Antithese zum ästhetischen Symbol

Der titelgebende Krug ist das zentrale Textbeispiel für Kleists Bruch mit der klassischen Ästhetik und seinen Fokus auf die körperliche Kontingenz (eine Kleist-eigene, oft Romantik-nahe Thematik).

  • Verruinierung des Symbols: Der Krug ist ein traditionelles Virginitätssymbol. Sein Zerbrechen (ein „Schadensfall“) zeigt den Ruin des ästhetischen Symbols an. Kleist wählt bewusst einen zerbrochenen Gegenstand, um die Zerbrechlichkeit der Welt und die Vergeblichkeit der Suche nach Wahrheit zu thematisieren.
  • Das klaffende Loch (Konkretes Textbeispiel): Der Krug enthält das Bild des verschwundenen Ganzen. Frau Marthe beschreibt das Bild, das auf dem Krug abgebildet war:
  1. Der Bruch mit der „paradiesischen“ Einheit (Post-Aufklärung/Romantik)

Kleists Werk thematisiert den Sündenfall und die daraus resultierende Zerrissenheit.

  • Romantische Zerrissenheit: Im Gegensatz zur klassischen Strebung nach Ausgleich thematisiert Kleist die irreversible Entfremdung des Menschen vom Zustand der Ursprünglichkeit (dem Paradies der Reflexionslosigkeit) durch das Bewusstsein. Adams Fall symbolisiert den „unausweichlichen Fortschritt“ im Zerschlagen alter Ganzheiten. Die Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, und der Krug kann nicht repariert werden.
  • Sprachskepsis/Krise der Zeichen: Im Stück wird unablässig um Wörter und andere Zeichen gerungen. Kleist inszeniert ein „Babel der Konnotationen“. Adam verwendet „die Rede ausdehnender, Kunstgriffe“ und Lügen, um die Wahrheit zu manipulieren. Die Wahrheit kommt nur allmählich ans Licht. Diese Krise des Sprachgebrauchs und die Unzuverlässigkeit der Zeichen sind typisch für die intellektuelle Reaktion auf die Aufklärung (Kant-Krise) und zentrale Themen der Romantik.

Zusammenfassung

Zusammenfassend zeigt Der zerbrochne Krug, dass Kleist zwar auf bekannte Formen und Motive zurückgreift (Klassik), diese aber durch eine schonungslose Darstellung von Korruption, psychologischer Tiefe und der Aufdeckung körperlicher Realitäten (Romantik und darüber hinaus) subvertiert, was seine komplexe Stellung zwischen den Epochen begründet.

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