„Die Marquise von O…“ – Kritik der Leser (Rezeption) (Mat6004)

Worum es hier geht:

  • Jeder, der etwas veröffentlicht, ist gespannt, wie die Leser darauf reagieren.
  • Das gilt für heutige Schriftsteller genauso wie für solche aus der Vergangenheit.
  • Grundsätzlich nennt man so etwas „Rezeption“ = wörtlich „Aufnahme“, man könnte auch sagen Bereitschaft, sich auf das Werk einzulassen – positiv oder auch negativ.
  • Natürlich gibt bei Werken zum Beispiel aus dem frühen 19. Jhdt. in der Regel nicht so viele Stellungnahmen wie heute, wo das Internet als zusätzliche Plattform der Diskussion zur Verfügung steht.
  • Aber die früheren Reaktionen auf ältere Werke haben den großen Vorteil, dass sie uns zeigen, wie die Zeitgenossen über das Werk dachten.
  • Zu ihrer Zeit waren die Werke meistens noch keine Klassiker, d.h. die Leute waren noch nicht beeinflusst von Denkmal-Glanz.
  • Außerdem versteht man dann besser, inwieweit ein Werk gewissermaßen in seiner Zeit „lebte“ – und der Abstand zu heute verhilft einem zu einem tieferen Verständnis.

Reaktionen auf die „Marquise“

Schauen wir uns also mal an, wie die Leser und Leserinnen auf die 1808 erschienene Novelle „Die Marquise von O….“ reagierten.

Dabei werten wir die Quellen aus, die in der XL-Reclam-Ausgabe, S. 77-80 aufgeführt werden. Die Texte sind zu finden in:
Die Marquise von O … / Heinrich von Kleist. Hrsg. von Wolfgang Pütz, Stuttgart : Reclam, 2013 (Online-Ausg.), ISBN: 978-3-15-019127-9

Im Folgenden zunächst ein Gesamtschaubild, das zwei Richtungen enthält:

  • Von unten nach oben entspricht es der zeitlichen Entwicklung.
  • Von links nach rechts der negativen oder positiven Wertung.
  • Die Farbe „rot“ geht in Richtung Kritik, grün dann in Richtung Lob. Wichtig ist die blaue Farbe, die weiterführende Überlegungen markiert.

  1. Ein erster Beitrag aus den „Miszellen für Neueste Weltkunde“ vom 6.4.1808 stellt fest, dass man Kleists Novelle „mit besonderer Teilnahme“ lesen kann. Seltsamerweise geht der Verfasser von einer wahren Geschichte aus. Insgesamt wohl eher ein bisschen Werbung für das Heft und seinen Inhalt.
    Um was für eine Zeitschrift es sich hier handelte, kann man an diesem Google-Books-Auszug gut erkennen.
  2. Eine andere Zeitschrift mit dem schönen Titel „Der Freimüthige oder Berlinisches Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser“ hat am 4. März 1808 gleich von Anfang an (Herausgeber war übrigrigens August von Kotzebue, dessen Ermordung 1819 Unterdrückungsmaßnahmen gegen freiheitsliebende Studenten und Professoren auslöste.
    1. große sittliche Bedenken gegenüber der „Fabel“, also den Kern der Handlung.
      Hierbei handelt es sich um eine typische zeitbedingte Reaktion, die unseren heutigen Vorstellungen von Moral und Sitte in keiner Weise mehr entspricht.
    2. Angeblich errät man schon sehr schnell „den Schluss des Ganzen“,
      Auch diese Behauptung kann man nicht nachvollziehen, ganz im Gegenteil: man ist gespannt, wie sich das Ganze am Ende auflöst. Dazu trägt besonders bei, dass dieser Offizier eben gerade ein sehr vielschichtiger Mensch ist, mit Stärken und Schwächen.
    3. „albern“,
      Zu diesem Vorwurf kann man gar nichts sagen, weil er viel zu wenig klar ist. Was heißt im Zusammenhang dieser Novelle „albern“?
    4. „selbst moralisch unmoralisch,“
      Dieser Einwand geht in die Richtung der am Anfang schon geäußerten sittlichen Bedenken und kann aus heutiger Sicht nicht mehr ernst genommen werden.
    5. „dass für keinen Charakter irgendein Interesse gewonnen werden kann.“
      Auch dieser Einwand erscheint wenig überzeugend, den die doch insgesamt sehr eigentümlichen Hauptfiguren zeigen eine deutliche Entwicklung, die nicht voraus geahnt werden kann.
  3.  Eine Henriette von Knebel spricht am 5. März 1808 in einem Brief an ihren Bruder von
    1. „einer abscheulichen Geschichte“,
      Hier kann man nur ahnen, was die Verfasserin überhaupt meint, dass man mit der Reaktion nicht viel anfangen kann.
    2. „lang und langweilig im höchsten Grad“.
      Auch dieses Urteil wird nicht begründet und von den meisten Lesern sicherlich auch nicht geteilt.
  4. Ähnlich oberflächlich kommt einem die Feststellung einer Dora Stock vor, die am 11. April 808 davon spricht, dass diese Novelle keine Frau „ohne Erröten lesen“ könne.  Das ist nichts anderes als eine Variante der allgemeinen moralischen Verurteilung des Inhalts der Novelle.
  5. Sehr viel mehr anfangen kann man mit einer Stellungnahme von Wilhelm Grimm vom 24. November 1810, in der er vor allem „in Rücksicht der“
    1. „Gründlichkeit“,
      Anmerkung: davon kann man sicherlich in der Novelle an vielen Stellen sprechen.
    2. „der Tiefe und“
      Auch ein gewisser Tiefgang kann der Novelle sicherlich nicht abgesprochen werden.
    3. „des reinen Lebenssinnes“
      Diese Formulierung ist nicht ganz klar. Wenn man sie aber so versteht, dass Kleist hier auf die Tiefen des menschlichen Lebens eingeht, kann man das sicherlich bejahen.
    4. „so wie der kraftvollen“,
      Von der kraftvoll und Darstellung kann man sicherlich an vielen Stellen sprechen. Das trägt ja auch mit dazu bei, dass diese Novelle einen tiefen Eindruck hinterlässt.
    5. „anschaulichen und“
      Auch von Anschaulichkeit kann man sicherlich sprechen, wenn auch vieles zum Teil sehr komprimiert erscheint.
    6. „tief wirkenden Darstellung“ ein sehr positives Urteil fällt.
      Auf jeden Fall hat diese Novelle das Potenzial, Nachdenklichkeit zu erzeugen und damit tatsächlich tief zu wirken.
  6. Noch schöner wird es, wenn man eine Stelle aus einem Brief von Wilhelm Dilthey vom Dezember 1860 auswertet:
    1. Dort wird nämlich gleich am Anfang von der „sonderbaren Bedingung“ gesprochen, die Kleist Novelle zu Grunde liegt. Wenn man sie berücksichtigt, sei alles „trefflich“ „ausgeführt“.
    2. Anschließend wird darauf hingewiesen, dass Kleist in seinen Novellen das „Widersinnige, ja Absurde, welches uns zuweilen in schrecklichen Momenten im Schicksal erscheint, in den verschiedensten Formen ausgedrückt“ habe.  Dort sehe man das „Tollste mit kalter Alltäglichkeit auftreten, schreckliche Begebnisse ohne einen Ton der Mitempfindung, ohne einen Contrast, als müsste das so sein und wäre überall so“. Am Ende fragt Dilthey sich, „wie dieser Mensch das Leben solange ertrug“.
    3. Letztlich wird also hier gerechtfertigt, dass Kleist in seiner Novelle das Ungeheuerliche auf eine besondere Art und Weise präsentiert, weil er das Leben entsprechend wahrnimmt. Der Literatur und damit auch der kreativen Fantasie des Autors wird hier also ein weiter Raum eröffnet.
  7. Theodor Fontane setzt noch einen drauf, indem
    1. er in der Novelle das „Glänzendste und Vollendetste“ sieht, das er Kleist geschrieben hat.
      Anm: Das ist zunächst mal eine sehr allgemeine Würdigung, die noch argumentativ unterfüttert werden muss.
    2. Wenn man an dem Fall etwas als „unritterlich“ empfinde, dann empfinde man zugleich, „dass man nichts destoweniger desselben Faux pas fähig gewesen wäre. Wohl verstanden, man entdeckt die Möglichkeit dazu im eigenen Herzen.“
      Anm: Hier folgt eine erste und sehr allgemeine Begründung, in der Fontane auf die allgemeine Befindlichkeit des Menschen eingeht, der ja schon von Kant als etwas angesehen worden ist, dass „aus krummem Holz“ gemacht sei.
      https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/aa08/023.html
    3. Die Marquise sieht er „schamhaft ohne Prüderie, zart, rücksichtsvoll und voll hohen Muts“.
      Anm: Auch dieser Einschätzung kann man leicht folgen, vor allem wenn man die Entwicklung der Marquise hin zu mehr Autonomie berücksichtigt.
    4. Beim russischen Grafen bewundert er, dass durch dessen ganzes Tun und vornehmste Haltung immer das Schuldbewusstsein durchdringt“. Vor diesem Hintergrund sieht er in ihm „eine höchst ansprechende Figur“.
      Anm: Dies mag man etwas anders sehen, denn das Verhalten dieses Mannes bleibt natürlich überaus fragwürdig und auch seine Bemühungen, es wieder in Ordnung zu bringen, wirken nicht unbedingt vornehm. Hier würden wir – in Anlehnung an die Bemerkung von Dilthey –  Kleist eher verteidigen, indem wir das als dunkle Folie betrachten, vor der die eigentliche Hauptfigur der Novelle noch stärker strahlen kann.
  8. Das kurze Zitat von Hippolyte Taine aus dem Jahre 1870 ist allenfalls interessant, weil es einen auffordert, sich noch mal Gedanken über die „Wirkungen“ der Novelle sowie ihre besondere Form der sprachlichen Darstellung zu machen. Für uns gehört beides positiv zusammen.
  9. Hier kommt uns auch der Dichter Rilke zu Hilfe, der im Hinblick auf Kleists Novellen ganz allgemein von „unvergleichlich erzogener Prosa“ spricht und in unserem besonderen Fall „eine atemlos herunter- und hinauferzählte Marquise von O…“  sieht, ein wahres „Meisterwerk“.
  10. Dazu kommt dann auch noch Kafka, der nach einer Bemerkung seiner Freundin Dora Diamant Kleist geliebt habe und ihr besonders diese Novelle  mehrfach vorgelesen habe.
  11. Die Literaturwissenschaftlerin Marieluise Fleißer entdeckt in Kleists Gestalten ein „unbeschreiblich überquellendes Erlebnis der eigenen Persönlichkeit, die Selbstbehauptung der Individualität gegenüber der feindlichen Masse“. Interessant der Hinweis, der Stoff diene Kleist nur als „Vorwand, um die seelische Veränderung seiner Personen von Kulminationspunkt zu Kulminationspunkt aufzuzeigen.“
    Kulminationspunkt: Höhepunkt einer Entwicklung
  12. Das letzte Wort in der Zitat Sammlung hat denn der Schriftsteller Thomas Mann, der von sich bezeugt, dass er beim Lesen von Kleists Novellen aus „der Bangigkeit vor dem Ungeheuerlichen, aus dem Bann geteilten Gefühls nicht heraus“ komme.
    Anm: Man wird hier fast an die Wirkung der antiken Tragödie erinnert, wie sie Aristoteles als Katharsis beschreibt.