Björn Lankert, „Der Streber“ – Kurzgeschichte zum Thema „Vorurteile“ (Mat159)

Worum es hier geht:

Wir präsentieren hier in Textform eine Kurzgeschichte, die die Frage thematisiert, was eigentlich ein Streber ist – bzw. welche Vorurteile es da auch gibt.

Björn Lankert

Der Streber

Der Neue stand einfach da – es war wie immer eine seltsame Situation. Da stand jemand und wollte was – aber er wollte ja genau das, was noch nicht so einfach möglich war – mitreden oder einfach in einer Ecke unbeachtet selbst alles beobachten können. Nun, das hatte er bald – aber erst nach einigen quälenden Sekunden, als die Gespräche der anderen wieder ganz normal anliefen.

Fast wäre es auch so weitergegangen, wenn sich nicht offensichtlich Dr. Langkamp auf seine Pflichten besonnen hätte, die es nun wirklich nicht zuließen, einfach mit dem Unterricht anzufangen, während da noch jemand wie Falschgeld herumstand. Also sprach er Peter an – das stellte sich bald als sein Name heraus, hörte, dass dies sein erster Tag an dieser Schule sei. Die Schulleiterin habe ihn der Klasse 8d zugewiesen – alles andere werde sich sicher ergeben. Dr. Langkamp schimpfte leise vor sich hin – hätte man ihm nicht Bescheid sagen können? Aber vielleicht lag ja ein Zettel in seinem Fach und er hatte an diesem Morgen nur nicht nachgeschaut – wie schon so häufig. Ganz gleich, wie, er zeigte ihm den freien Platz neben Stefan, ging wie immer schwungvoll zum Pult und sagte ein paar Worte, die Peter aber nicht so ganz wahrnahm, weil genau in dem Moment, als er sich zum Stuhl runterbückte, seine Tasche von der Schulter rutschte und viel zu laut auf dem Boden landete. Jedenfalls war davon die Rede, man möge es dem Neuen doch leicht machen, jeder könne in die Situation kommen und weiteres in dieser Richtung.

Bald vergaß Peter die Umstände dieses Neubeginns, denn Dr. Langkamp hatte angefangen, auf eine Kurzgeschichte einzugehen, die in seiner Schule schon dran gewesen war – dennoch war er ganz froh, dass sein Banknachbar großzügig sein Heft mit dem Textzettel in die Mitte schob, so dass er einigermaßen verfolgen konnte, worum es gerade ging. Dr. Langkamp hatte anscheinend schon wieder vergessen, was er eben noch selbst seinen Schülern ans Herz gelegt hatte – aber das musste ja keine böse Absicht sein. Überhaupt sah er etwas vielbeschäftigt aus, so wie sich im Verlauf der Stunde zunehmend Zettel und Bücher auf dem Pult häuften.

Der Rest des Tages war dann kein großes Problem mehr. Stefan kümmerte sich auch weiter um ihn, er war wohl selbst froh, dass er nicht mehr allein an einem Tisch saß – und Sven, Malte und Björn, die mit Stefan zusammen so eine Art Clique zu bilden schienen, akzeptierten, dass Peter einfach mitgenommen wurde.

Der nächste Tag war die reinste Erholung für ihn – morgens schon saß er mit Stefan im gleichen Bus – und alles lief wie von selbst. Lediglich in der Religionsstunde war er auf sich selbst gestellt, weil Stefan im Gegensatz zu ihm katholisch war. Aber der ganze Rest der Clique war evangelisch – also kein Problem, den richtigen Raum zu finden. In der sechsten Stunde dann kam Dr. Langkamp wieder wie immer in die Klasse gestürmt, vergaß das Klassenbuch und die Anwesenheitskontrolle und besetzte gleich demonstrativ das Pult. Er war offensichtlich gut gelaunt, wollte nur kurz die Hausaufgabe hören, die sich auf die Geschichte von gestern bezog und dann zur nächsten Geschichte weitergehen. Doch daraus wurde nichts – zunächst einmal meldete sich keiner und als Sven dann aufgerufen wurde, druckste er nur rum. Als auch noch zwei Mädchen passen mussten, wurde es zunehmend ungemütlich. Schließlich erklärte Dr. Langkamp, wenn sich jetzt nicht gleich jemand meldete, würde er allen eine Sechs anschreiben. Peter wurde immer unruhiger – was sollte er machen, er hatte die Hausaufgabe gemacht, sogar gern, weil ihn die Geschichte interessierte. Aber wie würden die anderen das aufnehmen. Die Entscheidung wurde ihm durch Stefan abgenommen, der ihn anstieß, auf sein offenes Heft wies und zischte: „Los, mach schon, du hast das doch gemacht.“ Es fiel ihm immer noch nicht leicht, aber Dr. Langkamp hatte inzwischen mitbekommen, dass hier eine Lücke in der Mauer war und schaute ihn ermunternd an. Also räusperte er sich noch einmal und begann die Hausaufgabe vorzulesen. Als er fertig war, herrschte erst einmal Schweigen, dann begannen die ersten zu tuscheln: Wo hat der denn das her? Schreibt der immer so? Und ähnliches – und die Krone des Ganzen war, dass er seine Lösung noch einmal Satz für Satz vorlesen musste und Dr. Langkamp die wesentlichen Punkte an der Tafel festhielt, wobei er immer wieder mal staunend den Kopf schüttelte.

In der Pause wurde Peter gleich umringt und noch einmal gefragt, wo er das her hätte, was er eigentlich in Deutsch auf dem Zeugnis gehabt hätte, und Ähnliches mehr. Er war froh, als es wieder schellte, immerhin hatte er Maltes gestöhnte Warnung noch im Ohr: „Verdirb uns bloß nicht die Preise hier. Ich habe noch was anderes zu tun, als stundenlang Deutsch-Hausaufgaben zu machen.“ Wenigstens die anderen schienen das aber nicht so dramatisch zu sehen, bewunderten wohl eher, wie wenig Schwierigkeiten er mit dem hatte, was so geheimnisvoll Interpretation genannt wurde.

In den nächsten Tagen geschah nichts Besonderes, Peter fühlte sich immer wohler, war nur ganz erstaunt, als am Kaffeeautomaten Björn plötzlich auf ihn zukam und überhaupt nicht freundlich guckte: „Sag mal, was soll das eigentlich? Willst du dich bei Langkamp einschleimen? Kaum hat der eine Frage gestellt, bist du auch schon mit der Antwort da. Triff dich doch einfach privat mit ihm und lass uns in Ruhe.“ Peter war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte sich doch nur ganz normal am Unterricht beteiligt, wie er es in Köln auch immer gemacht hatte. Malte schien auch ziemlich verärgert zu sein: „Ich habe dir schon mal gesagt, du verdirbst uns hier die Preise. Wer weiß, was der bei der nächsten Arbeit von uns will.“ In der nächsten Stunde drehte sich alles in Peters Kopf, glücklicherweise wurde ein Film gezeigt und niemand merkte, wie es ihm ging. Mittags sprach er mit seiner Mutter darüber, sie war ganz erschrocken und meinte nur: „Übertreibst du auch nicht? Ihr müsst euch doch erst aneinander gewöhnen.“ „Aber wenn es doch Spaß macht? Mit Dr. Langkamp kann man wirklich gut reden!“

In den nächsten Stunden hielt Peter sich zurück, auch wenn es ihm schwer fiel. Aber aus der Welt war das Problem damit nicht. Immer öfter war er in den Pausen allein, glücklicherweise kannte er sich schon so gut aus, dass er alles Wichtige auch allein fand.

Peter war froh, dass jetzt die Deutscharbeit geschrieben wurde, da musste er sich nicht melden, konnte einfach alles aufschreiben, was ihm zu der Geschichte, die sie kriegen würden, einfiel. Nach der Arbeit wunderte er sich, dass Björn ihn demonstrativ fragte. „Willst du mitkommen? Wir treffen uns am Automaten.“ Alles schien in Ordnung zu sein, Peter atmete auf, zumal ihn das nächste Thema „Klassenzeitung“ bei weitem nicht so interessierte wie Geschichten.

Bei der Rückgabe der Deutscharbeit wunderte er sich, dass Björn, der die Arbeiten verteilte, ihn seltsam starr anschaute und auch beim Weitergehen noch zu ihm rüberguckte. Peter war gespannt, in seiner alten Schule hatte er meistens Einsen oder Zweien geschrieben. Wie würde dieser Dr. Langkamp wohl zensieren? Wie immer schaute er nicht gleich nach der Note, sondern ging erst mal die Korrekturen durch. Sie fielen sehr positiv aus, offensichtlich hatte er die Merkmale der Kurzgeschichte wirklich gut aus der gegebenen Geschichte herausgearbeitet. Dann aber glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Da stand nicht etwa nur eine Note mit einer kurzen Begründung, sondern fast eine ganze Seite in roter Schrift und darunter ein deutliches „Mangelhaft“. Dr. Langkamp hatte sich wirklich Mühe gegeben, wohl sogar richtig mit sich gekämpft. Auf jeden Fall hatte er ungewöhnlich ausführlich begründet, warum er eine an sich wirklich gute Arbeit nur mangelhaft nennen konnte, weil allem Anschein nach ein Täuschungsversuch vorlag. Peter verschwammen die Augen, er merkte, wie sich sein Magen zusammenzog und ihm schlecht wurde. Wieso Täuschungsversuch? Er war sich keiner Schuld bewusst. Dann sah er die zwei Buchstaben „b.w.“ – dieser Dr. Langkamp war bei aller Zerstreutheit doch jemand, der in diesen Dingen sorgfältig war und vermeiden wollte, dass jemand nicht zu Ende las. Beim Umblättern glaubte Peter seinen Augen nicht zu trauen: Da war ein Ausschnitt aus irgendeinem Buch mit der Überschrift: „Die Merkmale der Kurzgeschichte“ – unter dem Zettel stand, dass das eine Kopie sei und das Original von seinen Eltern abgeholt werden könne.

Plötzlich merkte Peter, dass jemand vor ihm stand. Es war der Lehrer, der ihn traurig anblickte: „Musste das denn wirklich sein? Du kannst das doch eigentlich auch so.“ Peter wusste hinterher nicht mehr so recht, wie er aus der Klasse und ins Sekretariat gekommen war, wo sich alle Schüler melden mussten, die aus irgendeinem Grund nicht mehr am Unterricht teilnehmen konnten. Richtig zu sich kam er erst, als seine Mutter vor ihm stand und ihn erst mal einfach mitnahm. Glücklicherweise war sein Vater auch da, er war gerade von einer Geschäftsreise nach Südafrika zurückgekommen und packte gerade seine Unterlagen fürs Büro zusammen. Er sagte nicht viel, als Peter ihm stockend erzählte, was er erlebt hatte, sondern griff gleich nach dem Heft. Während Peter noch überlegte, was er ihm sagen sollte, schaute ihn sein Vater plötzlich aufmerksam an und fragte nur: „Hast du eigentlich deinen Lehrer auf die handschriftlichen Eintragungen auf diesem Zettel aufmerksam gemacht?“ Peter brauchte ein bisschen, bis er begriffen hatte, was sein Vater wollte. Tatsächlich, der ziemlich lange Text, hatte an der Seite handschriftliche Zusammenfassungen. In der ersten Verzweiflung hatte er gar nicht darauf geachtet. Langsam wurde ihm klar, worauf sein Vater hinauswollte: „Das ist doch gar nicht deine Schrift.“ In solchen Dingen war Vater immer sehr schnell. Schon hatte er das Telefonbuch in der Hand, suchte die Nummer der Schule heraus und ließ sich die Nummer von Dr. Langkamp geben, der schon nicht mehr in der Schule war. Dann sagte er zu ihm: „Mama hat mir erzählt, dass es da einige in der Klasse gibt, die dich offensichtlich für einen Streber halten. Vielleicht war ja einer von denen wirklich so dumm, seine eigene Handschrift auf dem Zettel unterzubringen. Leg dich erst mal hin – ich kläre das mal ab.“ In Peter keimte wieder Hoffnung auf, gerne ging er in seine Zimmer, legte sich aufs Bett, ließ sich von seiner Mutter eine Wärmflasche machen, die half angeblich auch bei seelischem Kummer und war tatsächlich bald eingeschlafen.

Er wachte auf, als es an der Tür klopfte und sein Vater hereintrat. „Mit deinem Deutschlehrer kann man ja wirklich gut reden. Ihm war das ja gleich komisch vorgekommen, aber er dachte halt, typischer Übereifer. Außerdem war das sein dritter Täuschungsversuch in einer Woche – und so hatte er sich den Zettel nicht genauer angesehen, sondern war gleich vom sicheren Tatbestand ausgegangen. Warte mal ab.“ Peter hätte gerne mehr gewusst, aber sein Vater neigte dazu, die Dinge herankommen zu lassen. Morgen würde er schon sehen.

Der nächste Tag war ein Freitag, und aus der Schule wurde für Peter nichts, jetzt brauchte er wirklich die Wärmflasche, so tat ihm der Magen weh. Irgendwie war er auch froh, dass er nicht weiter im Geschehen war, es konnte nur besser werden. Auch den Samstag verbrachte er weitgehend im Bett. Erst am Sonntagmittag ging es dann schon wieder ein bisschen und er ging gerade zum Essen runter, als es an der Haustür klingelte und kurz darauf Stefan ins Wohnzimmer trat. Peter war erstaunt: „Hi, Stefan, was machst du denn hier.“ Sein Banknachbar sah nicht gut aus, druckste etwas herum und erzählte ihm dann eine Geschichte, die zunehmend spannender wurde: Dr. Langkamp war am Tag vorher in die Klasse gekommen und hatte allen Ernstes gesagt, es sei ein Schriftsachverständiger eingeschaltet worden, um die handschriftlichen Vermerke auf dem Zettel in Peters Heft zu untersuchen. Zu diesem Zweck würden alle Deutschhefte eingesammelt, um Vergleichsmöglichkeiten zu haben. In der Pause sei er mit Sven, Malte und Björn zusammengewesen und hätte ihnen gesagt, sie müssten sich was einfallen lassen. „Wieso einfallen?“ fragte Peter, dem langsam eine Ahnung kam. Stefan fiel es offensichtlich schwer, alles zuzugeben: „Also, ich habe mit meiner Mutter gesprochen, sie meinte, ich sollte zuerst zu dir gehen und dann Dr. Langkamp anrufen.“ „Ja, was ist denn los?“ „Nun, vor allem Björn und Malte waren so sauer auf dich, weil du in Deutsch alles weißt, dass sie mich belabert haben, vor der Deutscharbeit diesen Zettel in dein Heft zu schieben. Und weil ich doch so eine ähnliche Schrift wie du hätte, sollte ich noch ein paar Sachen dazuschreiben, weil du das ja immer bei deinen Texten machst.“ Peter sagte nichts, blickte nur auf das große Fenster zum Garten und versuchte nachzudenken. Erleichtert war er schon, aber er dachte auch an die nächste Zeit. Wie würde die Klasse sich ihm gegenüber jetzt verhalten. So richtig im Gespräch war er erst wieder, als Stefan plötzlich von seinem Fußballspiel am Samstagnachmittag zu sprechen anfing. „Sag mal, was soll das denn jetzt, was hat das denn mit dieser Deutschgeschichte zu tun?“ Stefan druckste wieder herum, offensichtlich war er aus dem Tritt gekommen: „Also, wir hatten gestern ein ziemlich schweres Spiel und unser Mittelstürmer hing ziemlich rum, erst als der Trainer ihm in der Pause so richtig was geigte, wurde es besser – und schließlich haben wir doch noch gewonnen.“ Peter begriff immer noch nicht: „Mensch, Stefan, es geht mir um diese Deutscharbeit und du erzählst Geschichten aus deinem Sportlerleben!“ „Also, es war meine Mutter, die mich da ziemlich fertig gemacht hat. Ich hatte am Nachmittag fürchterlich über Niklas – das ist unser Mittelstürmer – geschimpft – von wegen kein Ehrgeiz, aber groß rumtönen. Meine Mutter hatte sich das einfach nur angehört und nicht viel dazu gesagt. Am Abend habe ich ihr dann die Geschichte mit deiner Deutscharbeit erzählt und da platzte sie plötzlich los – und sie kann fürchterlich wütend werden, wenn jemand was nicht begreift. „Wie, was nicht begreift?“ Peter war immer noch nicht schnell genug. „Na ja, wir seien so was von bekloppt oder so ähnlich: Beim Fußball sei es für uns selbstverständlich, dass man optimale Leistung bringt – und wenn nicht, dann ist eben was los – und in der Schule da würden wir Leute, die Leistung bringen, Streber nennen – und ich sollte mich schnellstens auf die Socken machen und mich bei dir entschuldigen und die Sache in Ordnung bringen. So sauer habe ich sie noch nie gesehen.“ Stefan verstummte. In die Pause hinein sagte Peters Vater: „Ich denke, wir rufen jetzt Dr. Langkamp an, seine Nummer habe ich ja noch. Vielleicht können wir eure Hefte auf dem Weg zum Sachverständigen noch stoppen.“ Und dabei lächelte er.

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