Worum es hier geht:
Wir wollen den Schülis die Angst vor Gedichten nehmen – indem wir einfach mal zeigen, wie eins entsteht.
Interessant vor allem, an was der Schreiber alles überhaupt nicht gedacht hat. Erst im Deutschunterricht wird es zum Thema – manchmal leider auf sehr abschreckende Weise.
Muss nicht sein – wie man hier sehen kann.
Ausgangspunkt – eine Idee …
Lars Krüsand,
Aus der Werkstatt eines Behelfsschriftstellers
Was ist ein Behelfsschriftsteller?
Nun ich kann nur für mich sprechen. Ursprünglich war die Sache ganz klar: Ich wollte als Deutschlehrer, dass Texte entstehen, die ich so oder besser nicht gefunden habe.
Mit der Zeit habe ich dann immer mehr ausprobiert – und dabei festgestellt, wie diese „fiktiven“, diese ausgedachten Texte entstehen. Songwriter können das wahrscheinlich am besten nachvollziehen. Man hat eine Idee im Kopf und dann möchte man sie Wirklichkeit werden lassen. Bei mir bleibt die Musik immer im Text.
.. und dann die Verlockung einer ersten Zeile
Und meistens beginnt es mit einer ersten Zeile, so wie hier.
Da bin ich auf dem Weg zum Einkaufen – glücklicherweise zu Fuß. Da hat man Zeit zum Nachdenken und auch zum Diktieren und Korrigieren. Etwa 10% Aufmerksamkeit reichen für die normalen Strecken, an Kreuzungen gerne etwas mehr – sonst wird das Gedicht nicht fertig.
Hier war es dieser Satz:
„Ich verlasse nur selten mein Königreich“
Hintergrund war die Frage, warum bin ich so viel zu Hause und gehe nur viel spazieren. Warum keine Reisen – und dann dieses Gefühl: Es gibt Welten, für die muss man die unmittelbare Umgebung nicht verlassen.
Der Rhythmus – erst hinterher erkannt
Der Rhythmus stimmte auch:
- Vorne zwei Silben „Auftakt“, so nenne ich das immer. Man holt Schwung.
- Dann eine betonte Silbe – und wieder zwei unbetonte Silben. Das sieht ja nach Anapäst aus. Den habe ich bisher immer verbunden mit der düsteren Grabinschrift:
„Heute ich – morgen du.“ Und jetzt so viel Schwung – wow. - Der Rest stimmt auch – prüfen wir es noch mal kurz durch:
xxXxxXxxXxX - Da bin ich mal gespannt, wie das mit dem Rhythmus weitergeht.
Wer sich jetzt wundert, wieso ein Behelfsschriftsteller so lange braucht, bis er seinen Rhythmus erkannt hat. Tja, so ist das beim Schreiben – wohl auch bei richtigen, großen Schriftstellern. Sie haben eine Idee – und dann den richtigen Tonfall – und dann geht es ab. Das ist wie eine Surfwelle, die man erreichen muss und dann nur noch Glück.
Glück der Welle – einziges Problem sind die Reime
Man sieht schon: Ich gehöre nicht zu den Schreibern, die stundenlang vor einem leeren Blatt knien und um eine Eingebung flehen.
Am schlimmsten ist für mich immer die Reimfrage – ich mag diese Zwänge nicht, nach dem richtigen Wort zu suchen – es ist nämlich erst mal nur für den Reim richtig. Aber drückt es auch optimal aus, was man sagen will?
Nun ja – ich muss jetzt erst mal wieder raus – auf Eingebungen warten.
Ich oute mich einfach – hier das vorläufig fertige Gedicht
Aber hier schon mal das fertige Gedicht. Ich werde noch weiter zeigen, wie es entstanden ist.
- Ich verlasse nur selten mein Königreich
- Warum auch sollte ich’s machen
- Kaum wache ich auf, so weiß ich gleich
- Gleich gibt es was zu lachen.
- Ausgehend von der ersten Zeile, die gleich im Kopf war, wird auf ein Ziel hingearbeitet.
- Nämlich die Vorfreude auf etwas, was einen in diesem Königreich zum Lachen bringt.
- Natürlich ist das mit Arbeit verbunden
- Und manchmal hat man sich auch geschunden
- Ist man dann fertig mit den Resten –
- Es gibt halt eine Wahrheit nur.
- Zuletzt lacht man am allerbesten
- In dieser Strophe wird nur kurz auf den Prozess der Arbeit eingegangen,
- der mit einigem Stress verbunden ist,
- ansonsten am Ende aber das Lachen zu garantieren scheint.
- Dieses Lachen bekommt hier fast den Charakter eines Leitmotivs.
- So schön ist halt Literatur
- Denn nimmt man ein Gedicht zur Hand
- Es öffnet sich ne ne ganze Welt
- Häufig sie nicht gleich gefällt.
- In dieser Strophe geht es erstmals um das, womit das lyrische Ich sich abgibt.
- Sein Königreich ist auf jeden Fall die Literatur oder hat zentral damit zu tun.
- Das Besondere ist, dass die potenzielle Enge des eigenen Königreichs jetzt zumindest fiktiv oder in der Fantasie überwunden wird.
- Die Lösung ist: ganz langsam: Tasten
- Und zwischendurch durchaus mal rasten
- Hast du hier nicht nen Schuss Geduld
- So ist es deine eigene Schuld.
- Auch hier wieder ein genaueres Eingehen auf die Arbeit an der Literatur.
- Man kommt da nur langsam zum Ziel, muss auch vorsichtig sein,
- auch mal Pause machen zwischendurch
- und Geduld zeigen.
- Ohne die gerät man in Ärger, an dem man dann selbst die Schuld trägt.
- Du musst nur schauen, was es macht
- Dies lyr‘sche Ich so voller Macht
- Es kann dich in die irre führen
- Doch lass dich einfach nicht verwirren.
- Hier geht das lyrische Ich gewissermaßen auf sich selbst ein.
- Es verrät den entscheidenden Trick, mit dem man jedes Gedicht knacken kann.
- Man muss nur der Spur – nicht des Geldes – sondern dieses sprechenden Etwas folgen.
- Dabei kann man in die Irre geführt werden,
- aber man soll sich nicht verwirren lassen.
- Das heißt: Als jemand, der sich mit den Kunstwerken der Literatur beschäftigt, muss man sein eigenes Ziel im Auge behalten.
- Und treibt‘s vielleicht auch mal zu toll
- Dann nimm auch du den Mund ganz voll
- Ist’s Unsinn, ach dann sag es doch
- Gedichte haben manch ein Loch.
- Hier geht das lyrische Ich jetzt auf die Gedichte ein, die gewissermaßen eine rote Linie überschreiten,
- was Verständlichkeit angeht.
- Das Gegenmittel ist, dann diesen Gedichten auch mal die Meinung zu sagen.
- Auf Unsinn gehört dann eben auch ein entsprechendes Etikett.
- Am Ende dann der Hinweis darauf, dass Gedichte eben Löcher haben, die gefüllt werden müssen, aber eben auch dürfen.
- Als Interpret bist du gefragt
- Da heißt es auch mal: Frisch gewagt
- Lass spielen deine Fantasie
- Oder greif auch zur KI.
- In dieser Strophe dann das Schlüsselwort „Interpret“,
- also jemand, der einen mehr oder weniger rätselhaften Text eben „auslegen“ muss und darf.
- Dazu gehört auch ein gewisser Mut oder auch Elan.
- Als Mitwirkender am kompletten Kunstwerk
- darf man auch eine gewissermaßen mitschaffende Fantasie wirken lassen.
- Am Ende dann der zur Zeit sicher noch gewagte Hinweis, dass man sich auch von der KI helfen lassen darf.
- Blickst du dann auf dein Werk zurück
- Genieße einfach dieses Glück
- Ein Dichter macht nur halbe Sachen
- Den Rest darfst du dann einfach machen
- Zum Schluss eben der Hinweis auf das Gefühl, das jeder hat, der etwas Außergewöhnliches zustande gebracht hat.
- Das Außergewöhnliche bedeutet hier eben, dass etwas Neues geschaffen worden ist, das es bisher noch nicht gab –
- auch wenn sicher dem Autor des Gedichtes ein noch größeres Kreativitätslob gebührt.
- Dann aber im Schluss-Zweizeiler noch mal die Erinnerung daran, dass hier nicht nach einem bestimmten Schema oder einer Checkliste gearbeitet wird.
- Auch das Interpretieren enthält Elemente eben der mit schaffenden Kunst.
Mögliche Erweiterung
Man hätte noch eine Strophe anhängen können, die noch einmal auf das Königreich und seine potenzielle Grenzenlosigkeit hätte eingehen können.
Dem Verfasser erschien am Ende dann doch die Doppelgestaltung der Gedichte in Kreation und Interpretation wichtiger.
Man könnte auch sagen: Nach so viel Beschäftigung mit weiträumiger Literatur musste das lyrische Ich sich gar nicht mehr gegen den möglichen Vorwurf mangelnder Weltläufigkeit verteidigen.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Übersicht über Texte von Lars Krüsand
https://textaussage.de/lars-kruesand-sammlung-der-texte-eines-behelfsschriftstellers
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos
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