Siegfried Lenz, „Die Nacht im Hotel“ – ein außergewöhnlicher Vater hat außergewöhnlich viel Glück (Mat7330)
In der Geschichte geht es um einen Vater, der sich Sorgen macht um seinen Sohn. Dieser schaut nämlich auf dem Weg zur Schule immer sehnsüchtig einem Zug zu und winkt dabei heftig. Weil keine Reaktion erfolgt, ist er immer wieder ganz traurig.
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Der Vater kommt deshalb auf die Idee, die Rolle des Winkenden zu übernehmen.
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Dafür muss er in der Nachbarstadt übernachten und trifft dort im Dunkeln – er wird aufgefordert, kein Licht anzumachen – im einzigen Doppelzimmer, in dem noch ein Bett frei ist, auf jemanden mit Krücken, dem er seine Geschichte erzählt.
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Die Reaktion ist Unverständnis und sogar der Vorwurf des Betrugs.
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Am nächsten Morgen wacht der Vater auf und stellt fest, dass er verschlafen ist. Der Nachbar ist schon weg und hat ihn schlafen lassen.
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Als nun auch der Vater traurig nach Hause kommt, trifft er dort auf einen vor Glück strahlenden Sohn, der ihm erzählt, an diesem Tag habe ihm jemand zum ersten Mal heftig zugewinkt – und sogar mit einer Krücke.
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Der entscheidende Punkt in dieser Geschichte ist – wie der Titel es schon andeutet – diese Nacht im Hotel. Sie führt nämlich bei dem Zimmergenossen offensichtlich zu einer Änderung seiner Meinung. Sonst hätte er ja nicht die Rolle des Vaters übernommen und das Winken des Jungen beantwortet.
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Interessant der Ausgangspunkt dieser Veränderung. Der Mann mit Krücken erklärt nämlich seine Abneigung gegen Kinder so: “Mich”, sagte der Fremde, “gehen Kinder nichts an. Ich hasse sie und weiche ihnen aus, denn ihretwegen habe ich – wenn man’s genau nimmt – meine Frau verloren. Sie starb bei der ersten Geburt.“
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Seltsamerweise fragt er aber direkt danach schon: „Sie fahren nach Kurzbach, nicht wahr?“
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Hier wäre es besser gewesen, wenn das der Vater von sich aus gesagt hätte – denn dann käme ein längerer Nachdenkprozess bei dem Mann mit den Krücken in Frage. So überzeugt das nicht so ganz.
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Insgesamt eine Kurzgeschichte – mit einem direkten Einstieg, einem Auschnitt aus dem Leben mit einer Wende.
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Der Schluss bleibt insofern offen, als es der Erzähler beim Glück des Jungen belässt. Wie jetzt weiter mit dem Problem umgegangen wird, bleibt dem Leser überlassen. Der Mann mit den Krücken wird ja nicht jeden Tag die Rolle des Zurückgrüßers übernehmen.