Im Folgenden geht es um etwas, was Schriftsteller immer gerne machen – wie übrigens alle kreativen Menschen. Die wandeln etwas Vorhandenes ab oder schreiben es weiter.
Lessing hat das mit einer alten Fabel des Griechen Aesop gemacht.
Die ist auf der folgenden Seite zu finden und wird so präsentiert:
https://www.projekt-gutenberg.org/aesop/fabeln/chap040.html
—
Äsop
Die Frösche und die Schlange
Die Frösche erbaten sich einst von Jupiter einen König. Er warf ihnen einen Klotz zu. Das Getöse jagte sie anfangs in die Tiefe, bald aber wagten sie, ihre Köpfe herauszurecken und ihren neuen König zu betrachten, der noch auf dem Wasser schwamm; und bald hüpften sie kühn auf ihn hinauf, verächtlich grüßten sie ihn als König; erbaten sich dann aber doch einen andern, der auch ein bißchen regieren könne.
Im Zorn gab ihnen Jupiter eine Schlange, welche ihre Regierung auch sofort mit aller Strenge anfing und einen Untertanen nach dem andern verschlang. Bald blieb dem Überrest nichts übrig, als nochmals um einen andern Oberherrn zu bitten; allein Jupiter sprach mit Donnerstimme: »Euch ist geschehen, wie ihr wolltet! Ertragt nun dies Unglück mit Fassung!«
Der Unzufriedene lernt immer zu spät, daß das Alte besser war.
—
Lessing hat nun den Schluss unter einem etwas anderen Titel wie folgt abgeändert.
—
Lessing,
Die Wasserschlange
Zeus hatte nunmehr den Fröschen einen andern König gegeben; anstatt eines friedlichen Klotzes, eine gefräßige Wasserschlange.
Willst du unser König sein, schrien die Frösche, warum verschlingst du uns? – Darum, antwortete die Schlange, weil ihr um mich gebeten habt.
Ich habe nicht um dich gebeten! rief einer von den Fröschen, den sie schon mit den Augen verschlang. Nicht? sagte die Wasserschlange. Desto schlimmer! So muß ich dich verschlingen, weil du nicht um mich gebeten hast.
—
Anmerkungen zu Lessings Fortsetzung
- Äsops Fabel „Die Frösche und die Schlange“ zeigt das Verhältnis zwischen Untertanen und Herrschern.
- Interessant ist sie, weil sie die Gefahren von Unzufriedenheit und leichtfertigen Forderungen aufzeigt.
- Sie lehrt, dass Veränderungen nicht immer Verbesserungen bringen und dass Unzufriedenheit oft zu schlimmeren Zuständen führt.
- Die Moral ist universell und zeitlos:
Zufriedenheit und Vorsicht im Umgang mit Macht sind essenziell. - Übrigens passt das gut zum Verhältnis der alten Griechen zu den Göttern: Geopfert wurde ihnen vor allem, um sie gewissermaßen nicht zu ärgern, ruhig zu halten. Denn von ihnen konnten immer unangenehme Dinge kommen – zumal sie über ziemlich extreme menschliche Schwächen verfügten.
— - Lessing verändert diese alten Schicksals-Zusammenhänge in Richtung Vernunft und Verantwortung.
- Seine Fassung („Die Wasserschlange“) zeigt
- zunächst die Rechtfertigung der Schlange: Für sie sind die Frösche selbst schuld an der Grausamkeit, die sie trifft. Das ist gewissermaßen das Weiterdenken der Fabel des Äsop im Sinne der altgriechischen Göttervorstellung.
- Zugleich aber ergibt sich bei Lessing eine Paradoxie dar. Die Aussage „Ich verschlinge dich, weil du nicht um mich gebeten hast“ kritisiert Willkür und macht die Frösche zu Opfern ihrer Entscheidungen.
- Typisch für die Aufklärung ist Lessings Intention, auf die Notwendigkeit rationaler Entscheidungen und die Konsequenzen unbedachter Forderungen hinzuweisen.
- Er kritisiert Machtmissbrauch, gleichzeitig appelliert er an die Selbstverantwortung der Untertanen.
- Damit wird deutlich, dass Lessing eine alte Vorlage herausnimmt aus dem Schicksalszusammenhang und hineinstellt in die moderne Welt menschlicher Rationalität.
Nun zu Kafkas „Kleine Fabel“
Uns hat die Ausweglosigkeit dieser Fortsetzung an einen Text von Kafka erinnert:
Franz Kafka
Kleine Fabel
»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.[91]
Quelle: Franz Kafka: Gesammelte Werke. Band 8, Frankfurt a.M. 1950 ff., S. 75,92.
Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005132983
- In beiden Texten erleben die Figuren eine Situation, die scheinbar keinen Ausweg bietet. Die Frösche sind der Schlange ausgeliefert; die Maus läuft unweigerlich in die Falle.
- Beide Texte beleuchten Machtstrukturen und das ungleiche Verhältnis zwischen den Mächtigen (Schlange/Katze) und den Schwächeren (Frösche/Maus).
— - Während Lessing aber eine klare Lehre für die Gesellschaft gibt, gibt es bei Kafka keine Lösung. Seine „Kleine Fabel“ stellt einfach dar, wie man sich die Situation des Menschen in der Welt vorstellen kann.
- Man nennt eine solche Vorstellung „existentialistisch“: Es lässt sich nichts tun als das Schicksal anzunehmen und dabei fast wie bei Schillers „schöner Seele“ sich selbst eine gewisse Größe zu verschaffen.
- Was die Darstellung angeht, so ist Lessings Text rational und argumentativ aufgebaut, während Kafkas Stil surreal und metaphorisch ist.
- Lessing richtet sich kritisch, aber hoffnungsvoll an die Vernunft des Lesers. Kafka vermittelt eine düstere, fast nihilistische Weltsicht.
Nun zum letzten „Akt“ – Kreativität
Wir sind auf Lessings Fabel mit der Wasserschlange gestoßen, als wir uns mit Gedichten der Aufklärung beschäftigten.
Nun hat Lessing die Fabel leider nicht in Gedichtform präsentiert – aber das können wir ja nachholen.
Auf die Reimzwänge verzichten wir als moderne Menschen gerne – aber ein passender Rhythmus und natürlich die richtige Gedichtform sollte schon sein:
Lessing/Lars Krüsand
Die Fabel von der Wasserschlange heute
- Sind wir nicht alle manchmal Frösche
- wie diese Tiere bei Äsop.
- Sie wollten einen König
- soweit so gut.
— - Jedoch von Zeus
- gab es für sie nur ein Stück Holz.
- Das schwamm zwar oben
- Jedoch nichts Königliches
- war bei ihm zu sehn.
— - Die Frösche wandten sich erneut an Zeus
- und der tat das,
- was bei den Griechen alle Götter taten.
- Er ließ an ihnen seine schlechte Laune aus
- und eine Wasserschlange war
- das neue Angebot, dem einer nach dem anderen …
- zum Opfer fiel – der Rest, er bat um Hilfe,
- bekam jedoch zu hören nur – selbst Schuld.
— - Wir haben heute keine Götter mehr
- Schon Lessing dachte sich was andres aus.
- Zunächst das gleiche wie im alten Werk.
- Der Hinweis, ihr habt es ja selbst gewollt.
- Doch war da einer, der zu Recht erklärte.
- Ich hab nicht mitgemacht –
- so lass mich auch in Frieden.
— - Jedoch schon Lessing wusste, keine Götter
- das ist auch keine Lösung.
- Das Böse ist jetzt tief in uns.
- Selbst ohne Schuld durch Dummheit
- muss man das dulden,
- was das Schicksal einem bringt.
— - Und manchmal steckt ein Mensch dahinter,
- der nicht auf Goethe hört.
- Von dem kommt nämlich Rat und Tat.
- Wir können menschlich sein, das heißt auch edel
- und hilfreich auch, vor allem gut.
So hat ChatGPT diese moderne Variante erläutert:
Das Gedicht setzt Lessings Fabel in einen modernen Kontext und integriert zugleich die bekannten Begriffe “edel, hilfreich und gut” aus Goethes Gedicht “Das Göttliche”. Es lässt sich wie folgt analysieren:
Aufbau
- Einleitung (Zeilen 1–4):
- Die Menschen werden metaphorisch mit Fröschen verglichen, was eine direkte Verbindung zur Fabel herstellt.
- Bereits hier wird die Grundfrage der menschlichen Natur und des Verlangens nach Führung angedeutet.
- Äsops Original (Zeilen 5–17):
- Der klassische Verlauf der Fabel wird zusammengefasst: die Frösche verlangen nach einem König, bekommen zunächst ein Stück Holz und schließlich die grausame Wasserschlange.
- Der Fokus liegt auf der Willkür der Götter und der Verantwortungslosigkeit der Frösche.
- Lessings Erweiterung (Zeilen 18–24):
- Die Erzählung wechselt zur Perspektive Lessings, der die moralische Dimension erweitert: ein Frosch distanziert sich von der kollektiven Verantwortung.
- Die individuelle Schuldfrage wird eingeführt, was typisch für die Aufklärung ist.
- Moderne Reflexion (Zeilen 25–30):
- Die Abwesenheit der Götter wird als keine Lösung dargestellt, da das Böse nun in den Menschen selbst wohnt.
- Es entsteht ein düsteres Bild von der Unvermeidbarkeit des Schicksals und der Dummheit.
- Optimistische Schlussfolgerung (Zeilen 31–35):
- Der Gedanke von Verantwortung und Menschlichkeit wird durch den Bezug auf Goethe positiv gewendet.
- Die Begriffe “edel, hilfreich und gut” werden als Ziel menschlichen Handelns präsentiert. Dies bildet einen moralischen Kontrast zur düsteren Welt ohne Götter.
Aussage
Das Gedicht vermittelt eine Botschaft, die auf drei Ebenen arbeitet:
- Kritik an der Macht:
Es wird an Äsop und Lessing angeknüpft, um Willkür und Verantwortungslosigkeit der Herrscher und der Menschen, die sie wählen, zu kritisieren.
- Aufklärung und Verantwortung:
Lessings Idee, dass individuelle Verantwortung wichtig ist, wird modernisiert. Der Gedanke, dass das Böse im Menschen selbst liegt, spiegelt die psychologische Tiefe der Aufklärung wider.
- Humanistische Perspektive:
Durch den Bezug auf Goethe wird das Gedicht mit einer positiven Vision abgeschlossen: Menschlichkeit als Ideal. Die Begriffe “edel, hilfreich, gut” appellieren an die Tugendhaftigkeit und das Streben nach einem besseren Zusammenleben.
Zusammenfassende Einschätzung
Das Gedicht verbindet somit die aufklärerische Kritik Lessings mit einer optimistischen humanistischen Perspektive Goethes und zeigt die zeitlose Relevanz der Fabel in einer modernen Welt.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Zu Goethes Versuch, die Abwesenheit der Götter menschlich auszugleichen:
https://textaussage.de/goethe-das-goettliche
— - Weitere Infos, Tipps und Materialien zum Thema „Fabeln“
http://textaussage.de/fabeln-themenseite
— - Gedichte der Aufklärung – kurz vorgestellt
https://textaussage.de/gedichte-der-aufklaerung-ueberblick-und-beispiele
— - Übersicht über Texte von Lars Krüsand
https://textaussage.de/lars-kruesand-sammlung-der-texte-eines-behelfsschriftstellers
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos