Lessing, „Eine Parabel“ (Mat2271)

Lessing, „Eine Parabel“ – Hilfen zum Verständnis und zur Interpretation

Im Folgenden geht es um eine Parabel, also eine Gleichniserzählung, in der Lessing versucht, das Problem der Religionsstreitigkeiten zu erklären und möglichst auch zu beheben.

Letztlich ist es eine Variante zur „Ringparabel“ in seinem Theaterstück „Nathan der Weise“


Gotthold Ephraim Lessing

Die Parabel

  1. Ein weiser tätiger König eines großen großen Reiches, hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von ganz unermeßlichem Umfange, von ganz besonderer Architektur.
    Die Parabel beginnt gleich mit der Beispielerzählung. Gemeint ist etwas anderes, aber das soll am Beispiel dieses Palastes erklärt werden, so dass man die hier gewonnene Erkenntnis auf etwas anderes übertragen kann.
    Wenn man den Kontext kennt, in dem Lessing die Parabel geschrieben hat, ist klar, dass es hier – ähnlich wie in „Nathan der Weise“ – um den Streit der verschiedenen Religionen geht.
  2. Unermeßlich war der Umfang, weil er in selbem alle um sich versammelt hatte, die er als Gehülfen oder Werkzeuge seiner Regierung brauchte.
    Hier geht es um die Größe Gottes bzw. des einen Glaubens.
  3. Sonderbar war die Architektur: denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln; aber sie gefiel doch, und entsprach doch.
    Hier wird deutlich, dass dieser Palast etwas sonderbar aussieht nach außen. Er hält sich nicht an Regeln, er ist etwas Außergewöhnliches, das aber gefällt und dem eigentlichen Zweck entspricht.
  4. Sie gefiel: vornehmlich durch die Bewunderung, welche Einfalt und Größe erregen, wenn sie Reichtum und Schmuck mehr zu verachten, als zu entbehren scheinen.
    Das Schöne an dem Palast ist die Bewunderung durch die Menschen, es gibt zwar wenig „Reichtum und Schmuck“, aber das vermisst man nicht.
  5. Sie entsprach: durch Dauer und Bequemlichkeit. Der ganze Palast stand nach vielen vielen Jahren noch in eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcher die Baumeister die letzte Hand angelegt hatten: von außen ein wenig unverständlich; von innen überall Licht und Zusammenhang.
    Kennzeichen des Palastes sind „Dauer und Bequemlichkeit“, er ist also standhaft und man fühlt sich mit ihm und in ihm wohl.
    Interessant ist, dass die Probleme, die manche mit dem Palast haben, „von außen“ kommen.
    Wenn man drin ist, sieht man nur „Licht und Zusammenhang“.
  6. Was Kenner von Architektur sein wollte, ward besonders durch die Außenseiten beleidiget, welche mit wenig hin und her zerstreuten, großen und kleinen, runden und viereckten Fenstern unterbrochen waren; dafür aber desto mehr Türen und Tore von mancherlei Form und Größe hatten.
    Hier geht es um die Leute, die sich für besonders schlau halten und es gar nicht gut finden, dass der Palast von außen von sehr unterschiedlichen Fenstern und Türen geprägt sind. Das bezieht sich auf die konkret in der Welt existierenden Religionen, die alle das gleiche göttliche Zentrum anstreben, aber auf sehr unterschiedliche und nicht immer so ganz beeindruckende Weise.
  7. Man begriff nicht, wie durch so wenige Fenster in so viele Gemächer genugsames Licht kommen könne. Denn daß die vornehmsten derselben ihr Licht von oben empfingen, wollte den wenigsten zu Sinne.
    Hier wird deutlich, dass der Palast, also die wahre Kernreligion ihr Licht von oben bekommt, nicht von den vielen menschlichen Religonen.
  8. Man begriff nicht, wozu so viele und vielerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher wäre, und eben die Dienste tun würde. Denn daß durch die mehreren kleinen Eingänge ein jeder, der in den Palast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbarsten Wege, gerade dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinne.
    Hier gibt es eine sehr interessante Erklärung, warum es so viele, zum Teil unvollkommene Religionszugänge gibt und auch geben sollte, weil sie jeweils den Bedürfnissen ihrer Vertreter entsprechen.
  9. Und so entstand unter den vermeinten Kennern mancherlei Streit, den gemeiniglich diejenigen am hitzigsten führten, die von dem Innern des Palastes viel zu sehen, die wenigste Gelegenheit gehabt hatten.
    Hier macht sich Lessing ein wenig lustig über die Leute, die sich über die wahre Religion oder den wahren Glauben streiten. Gemeint ist dabei nicht der wahre Glaube im Sinne Lessings, sondern das, was die jeweiligen Religionsvertreter für den wahren Glauben halten, der aber nur der ihre ist. Am schärfsten der Hinweis, dass die am meisten über den wahren Glauben streiten, die von dem wirklich wahren Glauben am wenigstens gesehen haben.
  10. Auch war da etwas, wovon man bei dem ersten Anblicke geglaubt hätte, daß es den Streit notwendig sehr leicht und kurz machen müsse; was ihn aber gerade am meisten verwickelte, was ihm gerade zur hartnäckigsten Fortsetzung die reichste Nahrung verschaffte. Man glaubte nämlich verschiedne alte Grundrisse zu haben, die sich von den ersten Baumeistern des Palastes herschreiben sollten: und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichen bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als verloren war.
    Hier kommt Lessing auf die verschiedenen Glaubenszeugnisse, Glaubensdokumente, was er als „Grundrisse“ bezeichnet, zu sprechen. Statt dem wirklichen  wahren Glauben nahezukommen, führen sie eher zu Streit, vor allem, weil man vergessen hat, was die Ersteller der Grundrisse mit bestimmten Dingen sagen wollten.
  11. Ein jeder erklärte sich daher diese Worte und Zeichen nach eignem Gefallen. Ein jeder setzte sich daher aus diesen alten Grundrissen einen beliebigen Neuen zusammen; für welchen Neuen nicht selten dieser und jener sich so hinreißen ließ, daß er nicht allein selbst darauf schwor, sondern auch andere darauf zu schwören, bald beredte, bald zwang.
    Vor diesem Hintergrund geschieht etwas sehr Menschliches: Jeder glaubt, dass sein Plan und seine Erklärung richtig seien. Dazu kommt das Moment, dass es nicht nur um den eigenen Glauben geht, sondern dass man auch meint, andere zur gleichen Auffassung zwingen zu müssen. Man wird hier an das Verhalten der verschiedenen christlichen Konfessionen in der sogenannten „Heiden“-Mission erinnert. Alle sind darauf aus, „Proselyten“ zu machen, also ihre eigene Anhängerschar zu vergrößern. Es herrscht ein richtiger Konkurrenzkampf.
  12. Nur wenige sagten: »was gehen uns eure Grundrisse an? Dieser oder ein andrer: sie sind uns alle gleich. Genug, daß wir jeden Augenblick erfahren, daß die gütigste Weisheit den ganzen Palast erfüllet, und daß sich aus ihm nichts als Schönheit und Ordnung und Wohlstand auf das ganze Land verbreitet.«
    Hier kommt Lessing auf Leute wie sich selbst zu sprechen, also solche, die vor allem das für wichtig halten, was auch die Ringparabel ausdrückt, nämlich die gute Wirkung des Palastes, also des Kerns aller Religionen.
  13. Sie kamen oft schlecht an, diese Wenigen! Denn wenn sie lachenden Muts manchmal einen von den besondern Grundrissen ein wenig näher beleuchteten, so wurden sie von denen, welche auf diesen Grundriß geschworen hatten, für Mordbrenner des Palastes selbst ausgeschrien.
    Hier beschreibt Lessing, was diesen Leuten geschieht, wenn sie die menschengemachten Grundwisse, Religionen auch nur ein bisschen in Frage stellen.
  14. Aber sie kehrten sich daran nicht, und wurden gerade dadurch am geschicktesten, denjenigen zugesellet zu werden, die innerhalb des Palastes arbeiteten, und weder Zeit noch Lust hatten, sich in Streitigkeiten zu mengen, die für sie keine waren.
    Hier tröstet Lessing Leute wie sich und sagt praktisch: Wenn ihr auch Ärger bekommt, ihr seid näher am Kern dran.
  15. Einsmals, als der Streit über die Grundrisse nicht sowohl beigelegt, als eingeschlummert war, – einsmals um Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter: Feuer! Feuer in dem Palaste!
    Nach der langen Beschreibung der grundsätzlichen Situation kommt Lessing jetzt auf einen besonderen Fall, eine Krise, zu sprechen, die die Verhältnisse klären, bereinigen kann.
    Angeblich kommt der Kern aller Religionen in Gefahr. Hier ist es schwer, sich das beispielhaft auszumalen.
    Es könnte sein, dass die göttliche Religion (nennen wir sie mal so) in Schwierigkeiten kommt.
    Im heutigen Religionsunterricht würde man vielleicht sagen, durch den Materialismus. Zu Lessings Zeit vielleicht durch eine zu große, einseitige, vielleicht sogar materialistische Verstandesorientierung.
  16. Und was geschah? Da fuhr jeder von seinem Lager auf; und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Palaste, sondern in seinem eignen Hause, lief nach dem Kostbarsten, was er zu haben glaubte, – nach seinem Grundrisse. »Laßt uns den nur retten! dachte jeder. Der Palast kann dort nicht eigentlicher verbrennen, als er hier stehet!«
    In der Krise wird deutlich, wo das Problem ist. Nämlich die Vertreter der menschengemachten Religionen denken nur an ihre eigene Existenz und denken, ihre eigene Religion sei in der größten Gefahr, statt sich um die gemeinsame große Grundreligion zu kümmern.
  17. Und so lief ein jeder mit seinem Grundrisse auf die Straße, wo, anstatt dem Palaste zu Hülfe zu eilen, einer dem andern es vorher in seinem Grundrisse zeigen wollte, wo der Palast vermutlich brenne. »Sieh, Nachbar! hier brennt er! Hier ist dem Feuer am besten beizukommen. – Oder hier vielmehr, Nachbar; hier! – Wo denkt ihr beide hin? Er brennt hier! – Was hätt es für Not, wenn er da brennte? Aber er brennt gewiß hier! – Lösch ihn hier, wer da will. Ich lösch ihn hier nicht. – Und ich hier nicht! – Und ich hier nicht! –
    Hier beschreibt Lessing das Chaos, das dadurch entsteht.
  18. Über diese geschäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Palast; wenn er gebrannt hätte. – Aber die erschrocknen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten.
    Am Ende macht Lessing deutlich, dass all diese Religionsstreithammel nichts zum Erhalt der eigentlichen, der wahren Religion beigetragen hätten. Dann kehrt er zum Ausgangspunkt zurück und stellt fest: Der Palast hat gar nicht gebrannt, man hat es nur geglaubt. Man ist einem Irrlicht zum Opfer gefallen.
    Das passt zu der Anfangsfeststellung, dass der Palast, also die eigentliche Kernreligion alles übersteht.
    Man wird dann an Leute erinnert, die den Religionsvertretern immer wieder zugerufen haben: Wenn euer Gott so groß ist, warum glaubt ihr denn, ihr kleinen Menschen müsstet ihn verteidigen oder gar retten.

Zusammenfassung – Aussagen – Intentionalität der Parabel

Die Parabel zeigt

  1. dass Lessing von einem Kernglauben ausgeht, der Positives enthält und Positives hervorbringt.
  2. dass die menschlichen Zugänge zu diesem Kernglauben zwar für jeden so sein können, wie es für ihn gut ist,
  3. dass daraus aber zugleich unendlich viele Streitigkeiten entstehen,
  4. dass vor allem die einseitigen Religionsvertreter nur eins im Sinn haben, alle anderen zur eigenen Überzeugung zu bekehren.
  5. dass es aber auch Leute wie Lessing gibt, die sich auf die Kernreligion konzentrieren
  6. und ansonsten tolerant sind und auch zur Toleranz auffordern.
  7. dass es im Falle einer wirklichen Gefährdung der Kernreligion
  8. nur zur Verteidigung der menschengemachen Teil-Religionszugänge kommt,
  9. so dass die Kernreligion zerstört werden könnte,
  10. wenn sie nicht so standhaft und dauerhaft wäre.

Erweiterung der Interpretation

Diese Interpretation geht stark vom Kontext aus, was man auch daran merkt, dass wir zwischendurch nicht mehr vom Erzähler gesprochen haben, sondern von Lessing.

Wir lassen das mal so, weil es ein schönes Beispiel ist für eine verengte Interpretation, bei der man vorher schon zu viel vom Autor und seinem leben wusste.

Man könnte auch sagen: Wir sind selbst ein bisschen ein Opfer geworden, weil wir sehr mit unserem Zugang zur Wahrheit dieser Parabel beschäftigt waren.

Jemand, der sich nicht so intensiv mit Lessings Religionsstreitigkeiten oder „Nathan der Weise“ beschäftigt hat, könnte auch eine ganz andere Interpretation, also einen anderen Zugang zur Wahrheit dieses Textes wählen.

Er könnte es auf die Liebe beziehen und sagen: Wir sind uns im Kern wohl alle einig, was Liebe ist oder sein sollte (das entspräche dann dem Palast). Aber wir sind alles Menschen und brauchen Zugänge zur Liebe, die jeweils unserer Herkunft, unseren Eigenheiten entsprechen.

Und so können Paare glücklich werden, die durchaus unterschiedlich in den Einzelheiten der Liebe sind, die für sich aber den Kern begriffen haben und – wenn der Palast ihrer Liebe mal brennen sollte – nicht ihre eigenen Vorstellungen versuchen zu retten, sondern dern Kern ihrer Liebe selbst.

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