Lessing, „Nathan der Weise“ – die echte „Ringparabel“ ;-) (Mat8504)

Worum es hier geht:

Auf die situationsbedingten Schwächen der Ringparabel sind wir schon ausführlich eingegangen.

Hier soll es jetzt um die „echte Ringparabel“ gehen. Das ist natürlich ein rhetorischer Kniff, um deutlich zu machen, dass zwei andere Stellen in dem Theaterstück viel eher ins Zentrum gerückt werden sollten:

Entscheidend ist ein Auszug aus dem Gespräch zwischen Nathan und dem Tempelherrn – das übrigens wirklich zur Verständigung führt. Dort wird also zumindest im Stück selbst dessen Ziel erreicht:

Die Zitate haben wir der folgenden Ausgabe entnommen und präsentieren sie in kursiver Schrift. Unsere Anmerkungen erscheinen eingerückt.

Quelle: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 207-212.
  • NATHAN.
  • Stellt und verstellt Euch, wie Ihr wollt. Ich find‘
  • Auch hier Euch aus. Ihr wart zu gut, zu bieder,
  • Um höflicher zu sein. – Das Mädchen, ganz
  • Gefühl; der weibliche Gesandte, ganz
  • Dienstfertigkeit; der Vater weit entfernt –
  • Ihr trugt für ihren guten Namen Sorge;
  • Floht ihre Prüfung; floht, um nicht zu siegen.
  • Auch dafür dank‘ ich Euch –
  • TEMPELHERR.
  • Ich muß gestehn,
  • Ihr wißt, wie Tempelherren denken sollten.
  • NATHAN.
  • Nur Tempelherren? sollten bloß? und bloß
  • Weil es die Ordensregeln so gebieten?
  • Ich weiß, wie gute Menschen denken; weiß,
  • Daß alle Länder gute Menschen tragen.
  • TEMPELHERR.
  • Mit Unterschied, doch hoffentlich?
  • NATHAN.
  • Ja wohl;
  • An Farb‘, an Kleidung, an Gestalt verschieden.
  • TEMPELHERR.
  • Auch hier bald mehr, bald weniger, als dort.
  • NATHAN.
  • Mit diesem Unterschied ists nicht weit her.[252]
  • Der große Mann braucht überall viel Boden;
  • Und mehrere, zu nah gepflanzt, zerschlagen
  • Sich nur die Äste. Mittelgut, wie wir,
  • Findt sich hingegen überall in Menge.
  • Nur muß der eine nicht den andern mäkeln.
  • Nur muß der Knorr den Knuppen hübsch vertragen.
  • Nur muß ein Gipfelchen sich nicht vermessen,
  • Daß es allein der Erde nicht entschossen.

Deutlich wird hier, wie sehr ein Mensch es dem Zufall zu „verdanken“ hat, welcher Religion er angehört – und wie stark er ihrem Einfluss im Zuge seiner weiteren Entwicklung ausgesetzt ist.

Hier wird wirklich deutlich, dass die Qualität eines Menschen nicht in der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft besteht, sondern in seiner Menschlichkeit.

Ergänzung Rechas Widerstand gegen Dajas Plan

Ergänzend hinzunehmen kann man noch die Szene 3,1, in der Daja versucht, Recha zu einer Art Umzug ins christliche Abendland zu bewegen. Dort sieht man sehr schön, welch große Bedeutung Geburt und Erziehungsprozess für einen Menschen haben. Ein ganz klarer Hinweis auf die Problematik aller Missionierungsbemühungen und ein Argument für die Notwendigkeit und Möglichkeit der Toleranz zwischen den Religionen.

  • DAJA.
  • Mein, mein Wunsch wird dann
  • An des erfüllten Stelle treten; meiner.
  • Mein Wunsch, dich in Europa, dich in Händen
  • Zu wissen, welche deiner würdig sind.
  • RECHA.
  • Du irrst. – Was diesen Wunsch zu deinem macht,
  • Das nämliche verhindert, daß er meiner
  • Je werden kann. Dich zieht dein Vaterland:
  • Und meines, meines sollte mich nicht halten?
  • Ein Bild der Deinen, das in deiner Seele
  • Noch nicht verloschen, sollte mehr vermögen,
  • Als die ich sehn, und greifen kann, und hören,
  • Die Meinen?
  • DAJA.
  • Sperre dich, so viel du willst!
  • Des Himmels Wege sind des Himmels Wege.
  • Und wenn es nun dein Retter selber wäre,
  • Durch den sein Gott, für den er kämpft, dich in
  • Das Land, dich zu dem Volke führen wollte,
  • Für welche du geboren wurdest?
  • RECHA.
  • Daja!
  • Was sprichst du da nun wieder, liebe Daja!
  • Du hast doch wahrlich deine sonderbaren
  • Begriffe! »Sein, sein Gott! für den er kämpft!«
  • Wem eignet Gott? was ist das für ein Gott,
  • Der einem Menschen eignet? der für sich
  • Muß kämpfen lassen? – Und wie weiß
  • Man denn, für welchen Erdkloß man geboren,
  • Wenn mans für den nicht ist, auf welchem man
  • Geboren? – Wenn mein Vater dich so hörte! –
  • Was tat er dir, mir immer nur mein Glück
  • So weit von ihm als möglich vorzuspiegeln?
  • Was tat er dir, den Samen der Vernunft,
  • Den er so rein in meine Seele streute,
  • Mit deines Landes Unkraut oder Blumen
  • So gern zu mischen? – Liebe, liebe Daja,
  • Er will nun deine bunten Blumen nicht
  • Auf meinem Boden! – Und ich muß dir sagen,
  • Ich selber fühle meinen Boden, wenn
  • Sie noch so schön ihn kleiden, so entkräftet,
  • So ausgezehrt durch deine Blumen; fühle
  • In ihrem Dufte, sauersüßem Dufte,
  • Mich so betäubt, so schwindelnd! – Dein Gehirn
  • Ist dessen mehr gewohnt. Ich tadle drum
  • Die stärkern Nerven nicht, die ihn vertragen.
  • Nur schlägt er mir nicht zu; und schon dein Engel,
  • Wie wenig fehlte, daß er mich zur Närrin
  • Gemacht? – Noch schäm‘ ich mich vor meinem Vater
  • Der Posse!
  • DAJA.
  • Posse! – Als ob der Verstand
  • Nur hier zu Hause wäre! Posse! Posse!
  • Wenn ich nur reden dürfte!
  • RECHA.
  • Darfst du nicht?
  • Wenn war ich nicht ganz Ohr, so oft es dir
  • Gefiel, von deinen Glaubenshelden mich
  • Zu unterhalten? Hab‘ ich ihren Taten
  • Nicht stets Bewunderung; und ihren Leiden
  • Nicht immer Tränen gern gezollt? Ihr Glaube
  • Schien freilich mir das Heldenmäßigste
  • An ihnen nie. Doch so viel tröstender
  • War mir die Lehre, daß Ergebenheit
  • In Gott von unserm Wähnen über Gott
  • So ganz und gar nicht abhängt. – Liebe Daja,
  • Das hat mein Vater uns so oft gesagt;
  • Darüber hast du selbst mit ihm so oft
  • Dich einverstanden: warum untergräbst
  • Du denn allein, was du mit ihm zugleich
  • Gebauet? – Liebe Daja, das ist kein
  • Gespräch, womit wir unserm Freund‘ am besten
  • Entgegen sehn. Für mich zwar, ja! Denn mir,
  • Mir liegt daran unendlich, ob auch er …
  • Horch, Daja! – Kommt es nicht an unsre Türe?
  • Wenn Er es wäre! horch

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