Lessing, „Über die Wahrheit“ (Mat8534)

Worum es hier geht:

Von Lessing stammt ein berühmtes Zitat, in dem es um die Frage geht, was wichtiger ist, der Weg zur Wahrheit oder die Wahrheit selbst. Dabei ergibt sich dann sogar etwas, was man als paradoxe Übertreibung verstehen kann.

Den folgenden Text haben wir hier gefunden.

Wir präsentieren den Schlussteil des Zitats in Kursivschrift und fügen eingerückte Anmerkungen hinzu.

Noch eine kurze Vorbemerkung: Dies Zitat von Lessing kann man gut in eine Beziehung setzen zum Richterspruch in der Ringparabel von „Nathan der Weise“: Denn die 1000 Jahre Prüfungszeit, die dort vorgezeichnet werden, sind nicht mehr weit von unendlicher Wahrheitssuche entfernt, wie Lessing sie hier beschreibt.

Gotthold Ephraim Lessing

Über die Wahrheit

Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen.

  • Lessing unterscheidet hier zwischen dem Besitz von Wahrheit und den Mühen, die diesen Besitz erst ermöglicht haben.
  • Hier fällt er ein ganz eindeutiges Werturteil: Nicht die Wahrheit ist wertvoll, sondern die Mühe, die sich jemand gemacht hat, um sie zu erreichen.
  • Damit macht Lessing praktisch allen Leuten Mut, die lange hinter einer Frage her gewesen sind, bis sie schließlich eine Antwort gefunden haben.

Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –

  • Hier begründet Lessing seine These näher. Der Kampf um eine Wahrheit führt eben nicht nur zu einer Erkenntnis, sondern auch zu einer Art Lernprozess, verbunden mit den dazugehörigen Kräften.
  • Deutlich wird auf das Problem hingewiesen, dass der „Besitz“ einer Wahrheit drei Probleme mit sich bringen kann:
    • Er macht „ruhig“, schafft also jede produktive Unruhe ab.
    • Er macht „träge“, d.h. wo man keine Notwendigkeit sieht, strengt man sich auch nicht an.
    • Dazu kommt, dass der „Besitz“ von Wahrheit einen auch „stolz“ macht. Das heißt, es wird möglicherweise zu einem Scheinbesitz, weil diese Wahrheit nicht mehr in Frage gestellt und immer wieder neu überprüft wird.
    • Lessing spricht hier ein Problem an, vor dem niemand, der glaubt, etwas sicher zu wissen, geschützt ist. Man stellt es nicht mehr in Frage – und, was noch schlimmer ist: Man lässt es auch nicht mehr in Frage stellen.
    • Jeder mag sich hier selbst prüfen und die eigenen Erfahrungen checken, inwieweit er Menschen kennt gerade mit Zertifikaten und Abschlüssen, die deren Inhalte nicht gerne in Frage gestellt sehen. Junge Wissenschaftler mit neuen Ideen haben hier möglicherweise besonders viel Widerstand zu überwinden.

Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!

  • Hier kommt nun das Zitat, das am ehesten bekannt ist.
  • Lessing wendet sich an den höchstmöglichen Adressaten und spielt zwei göttliche Angebote durch:
    • In der rechte Hand alle Wahrheit, was immer im einzelnen damit gemeint sein soll.
    • In der linken Hand den ewigen Drang zur Wahrheit – sogar mit dem Zusatz „immer und ewig zu irren“.
  • Dann eine extrem emotionale Entscheidung für den Irrtum als Mensch und gegen „alle Wahrheit“.
  • Interessant ist die Begründung: Die reine Wahrheit sei nur für Gott allein.
  • Dieses Zitat darf man nicht zu sehr wörtlich nehmen. Denn was bleibt von einem Drang nach Wahrheit, der schon weiß, dass es kein Ergebnis geben wird – nicht mal ein vorläufiges.
  • Und um welche Wahrheiten geht es – könnte man da nicht ein bisschen differenzieren.
    • Denn dass eine allumfassende Wahrheit wohl wirklich zu viel wäre für das menschliche Gehirn und vor allem auch für die Seele – und auch den sozialen Zusammenhalt: Das kann man gut nachvollziehen.
    • Aber eine kleine Abkürzung auf dem Weg zu mancher Wahrheit wäre schon hilfreich, z.B. neue Möglichkeiten der Energiegewinnung mit weniger Belastung der Umwelt.
  • Es geht also Lessing hier wohl nur um eine extrem provokative Verteidigung der Bereitschaft zu unermüdlicher Forschung mit ständiger Infragestellung des Erreichten.
  • Die dahinterstehenden psychologischen Überlegungen sind ja vorher genannt worden.
  • Von daher ist es auch wichtig, nicht nur die letzten zwei oder drei Schlusszeilen zu zitieren, sondern auch die drei Zeilen davor.
Wichtige Ergänzung: Lessing ergänzt Kant

Wenn man es genau nimmt, kann man sogar die These vertreten, dass Lessing einen Gedanken von Immanuel Kant weiterdenkt.

Kant geht in seiner Antwort auf die Frage: „Was ist Aufklärung“ vor allem auf die Frage ein, wie man am besten zu einer möglichst sicheren Erkenntnis kommt – nämlich ohne Anleitung eines anderen, also ohne Bevormundung. Näheres dazu bei den weiterführenden Hinweisen unten.
Lessing geht nun einen Schritt weiter und fordert, dass man auch immer bereit sein sollte, den aktuellen Erkenntnisstand in Frage zu stellen.

Anregung: Lessing und die romantische „Sehnsucht“

Eine spannende Frage könnte sein, ob Lessings enthusiastisches Bekenntnis zu einem endlosen Weg, bei dem man aber immer in der Ferne ein Ziel ahnt, nicht auch tief romantisch ist.

Man vergleiche es mit der Idee der „Sehnsucht“ in der Romantik. Das geht doch in die gleiche Richtung.

Die Frage ist nur, ob ein Romantiker auch so offen davon gesprochen hätte, dass er auf dem Weg der Sehnsucht bleiben würde, wenn er wüsste, dass er das Ziel nicht erreichen kann.

Letztlich sollte man im Auge behalten, dass Lessings Statement wohl eher so zu verstehen ist, dass er einen zusätzlichen Akzent setzen will in Richtung Wahrheitssuche. Die Bemerkung „obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren“ hat dann wohl eher eine rhetorische, verstärkende Funktion.

Man könnte also akzentuierend sagen: Was Lessing hier regelrecht raushaut, ist ein romantisch wirkendes, gefühlsbetontes Plädoyer für extreme Rationalität. Die Sehnsucht der Romantik galt mehr dem Unendlichen, der Harmonie aller Dinge.

Von daher ist wohl eher die Sehnsucht Fausts in Goethes Drama („erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält“) mit dem vergleichbar, was Lessing hier anstrebt.

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