Lessings Christentum zwischen Aufklärung und Offenbarung – Auswertung eines Gesprächs mit einem Theologen von 2013 (Mat6171)

Worum es hier geht:

Wir haben uns an anderer Stelle schon sehr kritisch geäußert über die christliche Substanz der Ringparabel in Lessings „Nathan der Weise“.

Dementsprechend gespannt waren wir darauf, wie ein evangelischer Theologieprofessor in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk im Jahre 2013 Lessings religiöse Haltung zwischen Aufklärung und Offenbarung, zwischen Vernunft und Bibel. einschätzt.

Den Text haben wir hier gefunden:
https://www.deutschlandfunk.de/gotthold-ephraim-lessing-und-die-theologie-der-aufklaerung-100.html

Hier unsere Auswertung in Kurzform

  1. Dieses Gespräch ist interessant, wenn man die Problematik von Lessings Vorstellung vom Christentum, wie sie sich in der Ringparabel zeigt, im Unterricht behandelt hat.
  2. Dann wird nämlich deutlich und kann zum Beispiel in einer Klausur herausgearbeitet werden, dass hier letztlich die Position Lessings im Jahre 2013 von einem evangelischen Theologieprofessor kaum verändert wieder aufgenommen wird.
  3. Das bedeutet in diesem Falle sogar sehr deutliche Kritik am Offenbarungsgehalt der Bibel. Diese Deutlichkeit hätte Lessing sich zu seiner Zeit nicht leisten können.
  4. Demgegenüber wird die Vernunft sehr viel höher gewichtet, allen biblischen Gegen-Textstellen zum Trotz.
  5. Ganz im Sinne Lessings ist von der notwendigen Weiterentwicklung des Christentums die Rede, allerdings nicht ganz auf Moral reduziert. Wie genau das aussehen soll, bleibt aber in dem Gespräch unklar. Irgendwie meint man den Geist der Bibel aus dem Wortlaut (nur der Heiligen Schrift?) herauslösen zu können. Interessant sind hier Wikipedia-Informationen zu dem Professor, der sich selbst zu einer distanzierten Haltung gegenüber dem Christentum bekennt.
  6. Dankbar sind wir dem Artikel, das er uns ein Zitat von Lessing wieder vor Augen geführt hat, das wir in unserer eigenen Schulzeit im Schulbuch gefunden, aber dann nicht wiedergefunden hatten: Darin bekennt sich Lessing gegenüber Gott fast flehentlich dazu, dass er lieber auf der Suche nach der Wahrheit bleibt, als sie gegeben zu bekommen.

Nun die Detail-Auswertung des Artikels

Zunächst Basis-Informationen:

Gotthold Ephraim Lessing und die Theologie der Aufklärung
Deutschlandfunk Archiv
Theologieprofessor Matthias Kroeger im Gespräch mit Rüdiger Achenbach
[deutet erst mal in Richtung Kompetenz, allerdings möglicherweise auch eine spezielle innerkirchliche Perspektive, hier müsste man ggf. genauer recherchieren. Man kann sich aber auch einfach auf die Infos und Argumente konzentrieren, was wir hier tun.]
| 21.01.2013
https://www.deutschlandfunk.de/gotthold-ephraim-lessing-und-die-theologie-der-aufklaerung-100.html 

  • Wenn man den Titel liest, wird deutlich, dass der Artikel interessant sein könnte für die Behandlung des Theaterstücks “Nathan der Weise” von Lessing.
  • Das Gespräch repräsentiert insgesamt eine Sicht auf die Beziehung Lessings zum Christentum, die weitestgehend der des Schriftstellers entspricht.
  • Das beginnt schon früh mit einer kritischen Sicht auf das “Diktat” der Heiligen Schrift.
  • Das Selber-denken-Dürfen wird übergeordnet – die Frage, was dann von der “Heiligen Schrift” übrig bleibt, wird nicht gestellt.
  • Dann wird allen Ernstes von der “Flexibilität” Luthers beim Umgang mit der Wahrheit der Bibel gesprochen – von “Sola scriptura” keine Spur.
  • Ganz einseitig wird es, wenn davon die Rede ist, dass Luther “diese Direktheit der Vergötzung der Schrift” nicht gehabt habe.
  • Später heißt es, dass “zufällige Geschichtswahrheiten” (damit kann nur die Bibel gemeint sein) “nie den Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten” erreichen können.
  • Klare Stellen aus der Bibel, die den Glauben eindeutig der Vernunft überordnen, werden nicht berücksichtigt:
    „Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus.“
    (Joh 14,27; Kol 3,15)
  • Sogar ist es nur der “irdische Jesus”, der “den zeitübergreifenden Inhalt der Religion übermittelt”. Dem steht nur der “gepredigte Christus” gegenüber. Das schwankt zwischen Unklarheit und Widerspruch zwischen “irdisch” und “zeitübergreifend”. Wenn Jesus nur Mensch war und der Christus nur gepredigt wurde, dann zählt das Neue Testament des Christentums nicht mehr als jedes andere menschliche Zeugnis von religiösen Ansichten.
  • Das Problem der “Reduzierung des Christentums auf Nützlichkeit und Brauchbarkeit” in der Ringparabel wird deutlich angesprochen – aber dem wird ein Zitat aus einem Brief Lessings an seinen Bruder Karl entgegengesetzt, indem die kirchliche Lehre als “verunreinigtes Wasser” bezeichnet wird, die man aber akzeptieren müsse, weil sonst die Kinder in der “Mistjauche” der Aufklärungstheologie gebadet werden müssten. Keine Quellenkritik, die die Situation und die Beziehung bei diesem Brief berücksichtigt – während die Ringparabel im Gedächtnis geblieben ist und noch heute in den Schulen als Rezept gegen religiöse Unduldsamkeit genutzt wird.
  • Der einzige Ausweg aus der Moralenge von Lessings Religionsbegriff, nämlich die Einbeziehung von “Ergebenheit in Gott” in der Ringparabel wird weder gesehen noch genutzt. Aber auch er müsste definiert werden. Der biblischen Botschaft entspricht er in dieser Unbestimmtheit sicher nicht.
  • Insgesamt also ein Gespräch, das das Problem der Ringparabel anspricht, es aber nicht im Sinne der Bibel und des Glaubensbekenntnisses sieht, sondern in derselben Entwicklungsvorstellung hin zur Moral-aus-Vernunft-Religion, die sich auch bei Lessing findet.
  • Das einzig Gute an der Diskussion ist, dass am Ende Lessings berühmtes Zitat präsentiert wird, das die Suche nach der Wahrheit höher einschätzt als eine erreichte Wahrheit. Das geht aber über den an der Bibel orientierten christlichen Glauben hinaus.
  • Interessant sind die Infos zu dem Theologieprofessor, der offensichtlich das Christentum in seinem Sinne reformieren wollte. 2015 veröffentlichte er ““Was bleiben will, muss sich ändern“: Zur Legitimität einer Reform in den Herzstücken des christlichen Glaubens”. 1997 redete er schon einer “Ermutigung zu distanzierter Christlichkeit” das Wort.
  • Letztlich ist dieses Gespräch von ähnlicher Einseitigkeit wie Lessings Drama: Die jeweilige Gegenseite kommt mit ihren Argumenten nicht zu Wort.
  • Man könnte auch sagen: Lessing hat schon eine Entwicklung im (evangelischen) Christentum vorweggenommen, die heute wohl allgemein anerkannt wird – nämlich dass es nicht mehr um theologische Unterscheidungen geht, sondern nur noch um ein gutes Miteinander. Allerdings hat sich Lessings Hoffnung auf eine zukünftige Entwicklung in Richtung: „Alle verhalten sich aus Vernunftgründen moralisch gut“ noch nicht eingetreten und die Skepsis ist hier im 21. Jahrhundert wieder größer geworden als in den Jahrzehnten nach 1945.

Weitere Infos, Tipps und Materialien

Themenseite: „Nathan “
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