Lutz Rathenow, „Dezember 1989“ – Unsicherheit in der Umbruchssituation (Mat9463)

Einordnung und Thematik

Das Gedicht „Dezember 1989“ stammt von Lutz Rathenow und thematisiert die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche im Zuge des Mauerfalls und des Endes der DDR.

Gefunden haben wir das Gedicht hier:
Lyrik nach 1945, Erarbeitet von Norbert Schläbitz, Schöningh 2007, S. 109 – ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3140223799

Ein Bild als Anregung

  • Hier zunächst eine visuelle Umsetzung des Gedichtes.
  • Gut als Anregung geeignet für einen Vergleich.

Form

Das Gedicht besteht aus elf Versen ohne klare Strophenstruktur. Ein Reimschema ist ebenso wenig erkennbar wie ein fester Rhythmus.

Stattdessen eher der Eindruck einer Aneinanderreihung von Gedanken und Stichwörtern.

Inhaltsbeschreibung

  • Das lyrische Ich beschreibt zunächst vergangene Ereignisse und ordnet sie gleich ein („Der Schnee von gestern“, Z. 1),
  • wobei das Bild eines matschigen, schmutzigen Rests („Straßenschleim“, Z. 2) auf eine Ernüchterung nach großen Umbrüchen hindeutet.
  • Die Zeile „Hokuspokus ohne Hexerei“ (Z. 3) könnte sich auf den scheinbar magischen, aber letztlich ernüchternden Wandel der politischen Verhältnisse beziehen.
  • Die Sonne, die „sich sonnt“ (Z. 4), suggeriert eine unnatürliche Wärme im Winter, eine Art paradoxe Situation, die auf eine irritierende neue Realität hinweist.
  • In den Zeilen 6–7 („Fetzweise löste sich dann / die Haut von uns. Und jetzt?“) wird eine existenzielle Veränderung angedeutet:
  • Etwas Altes ist abgefallen, aber es bleibt Unsicherheit, wie es weitergeht.
  • Die zentrale Metapher des Gedichts ist die Partei als „Zwiebel“ (Z. 8), die sich schält,
  • wobei unklar bleibt, was im Inneren übrig bleibt („kein Kern in Sicht“, Z. 11).
  • Dies bezieht sich auf die entlarvten Strukturen des DDR-Systems, die sich im Umbruch befinden, ohne dass eine stabile neue Ordnung sichtbar wird.

Aussagen des Gedichts

Das Gedicht macht deutlich,

  1. dass der politische Umbruch von 1989 eine Mischung aus
    1. Enthüllung
    2. Enttäuschung
    3. und Unsicherheit ist.
  2. Die Bilder des Verfalls (Schnee, Haut, Zwiebel) verstärken das Gefühl der Auflösung und Orientierungslosigkeit.

Sprachliche und rhetorische Mittel

  • Metapher : Die sprichwörtliche Wendung „Der Schnee von gestern“ (Z. 1) als Symbol für Vergangenes, das an Bedeutung verloren hat.
  • Gegensätze : Sommerliche Sonne im Dezember (Z. 4–5) betont die Unnatürlichkeit der neuen Situation.
  • Metapher der Zwiebel (Z. 8–11): Die Partei wird als sich häutendes Gebilde beschrieben, was die Enthüllung alter Strukturen symbolisiert.
  • Enjambements : Die Überläufe von Zeilen wie 6–7 und 8–9
    • verstärken das Gefühl von Auflösung und Unsicherheit,
    • können aber auch als Beleg für den Gedankenfluss verstanden werden, der sein eigenes Tempo hat, zwischendurch ins Stocken gerät und dann wieder Fahrt aufnimmt.

Interpretation und Bewertung

  • Das Gedicht reflektiert den Umbruch von 1989 auf kritische Weise,
  • indem es das Fehlen eines klaren Neuanfangs betont.
  • Rathenows Bildsprache ist eindringlich, besonders durch die Metaphern der Häutung und des fehlenden Kerns.
  • Insgesamt handelt es sich um ein vielschichtiges, gelungenes Zeitgedicht, das die Ambivalenz (Widersprüchlichkeit) des politischen Wandels in prägnanter Form ausdrückt.

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