Marie Luise Kaschnitz, „Du sollst nicht“ – Selbstquälerei mit ein bisschen besserem Rückblick? (Mat7456)

Kaschnitz, „Du sollst nicht“ – ernstgemeintes Gebot?

Das folgende Gedicht ist uns zugeschickt worden mit der folgenden Quellenangabe:

„In: Kaschnitz, Marie Luise: Gesammelte Werke. Hg. von Christian Bütterich und Norbert Müller. Band 5: Die Gedichte. Frankfurt/M.: Insel, 1985, S. 318. © Insel Verlag Frankfurt/M. 1985. Alle Rechte vorbehalten bei und durch den Suhrkamp Verlag Berlin.“

Wir zitieren hier – aus urheberrechtlichen Gründen – nur Beginn und Ende der Strophen, auf die wir uns beziehen.

Die Überschrift und ihre Andeutungen

Marie Luise Kaschnitz

Du sollst nicht

  • Die Überschrift des Gedichtes hat einen an Gebote der Bibel erinnernden Befehlston.
    Es handelt sich um die 10 Gebote, die in der Bibel hier zu finden sind.
  • Leserlenkung: Man ist gespannt, was aus diesem Ansatz im Gedicht gemacht wird.
    • Mose (Exodus) 20, Vers 2–17
      https://www.die-bibel.de/bibel/BB/EXO.20
      Hier wird die ursprüngliche Form der sogenannten „Zehn Gebote“ beschrieben, als Gott sie dem Volk Israel am Berg Sinai gab.
    • Im allgemeinen Gedächtnis sind besonders diese Formulierungen:
      • Du sollst nicht töten.
      • Du sollst nicht ehebrechen.
      • Du sollst nicht stehlen.
      • Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
      • Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles, was dein Nächster hat.

Strophe 1

  1. Du […]
  2. Meine  […]
  3. Wenn  […]
  4. Fensterwärts  […]
  5. Und  […]
  • Man merkt in diesem Teil gleich die Individualisierung des allgemeinen Gebots-Ansatzes. Abgewehrt wird hier ein Gegenüber, von dem das lyrische Ich in bestimmten Situationen nicht gesehen werden will.
  • Die zweite Zeile macht dann schon ganz deutlich, dass das lyrische ich sich nicht in einem Zustand glücklichen Ausgleichs befindet, sondern sich nur verzerrt präsentieren kann und dabei das vorher vielleicht schöne Bild im Spiegel zerstört.
  • Auch die nächsten Zeilen deuten dann auf Unruhe hin. Das lyrische Ich erweckt den Eindruck von Schlaflosigkeit.
  • Der wahrscheinlich vom lyrischen Ich selbst empfundene Schmerz wird den Leintüchern zugeordnet. Es bleibt unklar, ob dies ein Versuch ist, die Gefühle von sich fernzuhalten, oder ob damit ausgedrückt werden soll, dass selbst die Umgebung – in diesem Fall das Bett – das eigene Leiden aufnimmt und widerspiegelt.

Strophe 2

  1. Du  […]
  2. Blind  […]
  3. (Auch  […]
  4. Noch  […]
  5.  Weil  […]
  • In der zweiten Strophe setzt sich dann die Abwehr fort.
  • Diesmal geht es nicht um eine Schlaf-Situation, sondern um den Versuch, nach vorne weiterzukommen.
  • Deutlich wird dabei, dass die Entwicklung eher aus Niederlagen besteht.
  • Trotzig behauptet das lyrische Ich, dass man auch daran einen gewissen Halt findet.
  • „Noch anwesend sein“ könnte eine weder-noch-Fortsetzung sein von „Du sollst nicht sehen wie ich mich vorwärtstaste“.
  • Am Ende dann eine Anspielung auf die wahrscheinlich eigene schriftstellerische Existenz, von der das Gegenüber auch ferngehalten werden soll.
  • Als Grund wird angedeutet, dass dem lyrischen Ich die eigenen Verse zu pathetisch vorkommen, so dass sie diesem Gegenüber zumindest nicht präsentiert werden sollen.“

Strophe 3

  1. Einmal  […]
  2. Und  […]
  3. Nur […]
  4. Und  […]
  • Am Ende folgt ein Rückblick auf eine offenbar bessere gemeinsame Zeit. Schon ein einziges Wort schien damals auszureichen, um einen positiv empfundenen Stillstand zu erreichen.
  • Die Zeile 13 wirkt dann grammatisch isoliert, der Schluss soll aber anscheinend ausdrücken, dass das lyrische Ich früher in der Gemeinsamkeit ruhig einschlafen konnte, also eine Kontrastsituation zum Anfang.
  • [Grammatisch ergibt das nur Sinn, wenn sich dies auf Laufschritte bezieht, also auf innere Bewegung auf dem Rücken, während das Gegenüber ‚nur‘ seine Hand unter die Wange des lyrischen Ichs geschoben hat.]

Zusammenfassung / Gesamteindruck

Insgesamt ein Gedicht, das genauso sprachlich zerquetscht wirkt wie die Situation, die es beschreibt.

Offensichtlich hat das lyrische Ich auf Grund von Negativ-Erfahrungen Probleme mit sich selbst, woraus fast so etwas wie Selbstverletzung entsteht.

Möglicherweise rettet sich das lyrische Ich zumindest etwas in literarische Kreativität.

Am Ende bleibt die Erinnerung an bessere gemeinsame Zeiten. Vielleicht ist dies eine Art Hilferuf – vorausgesetzt, das Gedicht richtet sich nicht nur literarisch an die gesamte Welt, sondern auch an das angedeutete Gegenüber.

Aussagen / Intentionalität

  • Das Gedicht zeigt die Ambivalenz menschlicher Beziehungen:
  • Einerseits die Scham, die eigene Verletzlichkeit zu zeigen,
  • andererseits das (zumindest durch die Erinnerung angedeutete) tiefe Bedürfnis nach Nähe und Trost.
  • Es zeigt die Zerbrechlichkeit des lyrischen Ichs, das sich zugleich in Situationen der gefühlten Schwäche vor dem „Du“ schützen und sich nach ihm sehnen will, weil es zumindest früher dadurch Ruhe gefunden hat.

Sprachliche – rhetorische Mittel

  1. Metaphern
    • „Fratzen den Spiegel zerschneiden“: Symbolisiert die innere Zerrissenheit und Selbstverachtung.
    • „Kette meiner Niederlagen“: Steht für die Belastung durch vergangene Erfahrungen, bei denen das lyrische Ich sich Hilfe durch Stabilität zumindest einredet.
  2. Personifikation
    • „die Leintücher seufzen“: Verdeutlicht die bedrückende Atmosphäre der nächtlichen Einsamkeit, unklar, ob es für Auslagerung der eigenen Gefühle steht oder eine Art mitleidsvolle Ausbreitung des Gefühls sogar in die Schlafumgebung hinein andeutet.
  3. Enjambements
    • Die Zeilenumbrüche (z.B. gleich in den ersten Zeilen) verstärken den Eindruck von Gedankensplittern und das Gefühl von Unruhe.
  4. Ellipsen
    • Verkürzte Sätze wie „Noch anwesend sein“ betonen die Dringlichkeit und Verzweiflung des lyrischen Ichs.
  5. Gegensätze
    • Die Spannung zwischen Abweisung („du sollst nicht“) und Bedürftigkeit (Die Hand des Gegenübers als Einschlaf-Hilf ) strukturiert das gesamte Gedicht.

Interpretationsmöglichkeiten

  • Wie immer kann man dieses Gedicht auf viel beziehen
    • auf eine Epoche
    • auf die Biografie der Dichterin, die wohl ihren Mann verloren hat
    • am ehesten aber auf eine allgemeine Erfahrung in Beziehungen – da sind immer Phasen möglich, wo man in seinem aktuellen Zustand nicht gesehen werden will, zugleich aber an schöne gemeinsame Zeiten zurückdenkt.
    • Auf gar keinen Fall sollte man dieses Gedicht in einen Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg bringen – ohne das nur als Möglichkeit anzudeuten, etwa wenn das lyrische Ich so seinen Ehemann verloren hat. Das wird aber im Gedicht nicht einmal angedeutet.
      Eine solche vorschnelle Zuordnung zur NS-Vergangenheit gibt es z.B. in dieser Präsentation:
      „V 6-8 Verarbeitung der Erlebnisse des Krieges/der NS-Zeit“

Kreative Anregung:

  • Man könnte mal versuchen, diese Situation in aktueller Sprache nachzugestalten.
  • Dann bietet es sich auch an, eine mögliche Antwort in Verse zu fassen.

Weitere Infos, Tipps und Materialien