Mia Bingosa, „Wahrnehmungsprobleme in E.T.A. Hoffmanns Novelle ‚Der Sandmann'“ (Mat7228-mini-klausur)

Wir präsentieren hier eine Klausur, die sich besonders mit den Wahrnehmungsproblemen in Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“ beschäftigt.

Mat7228 Klausur Mia Bingosa Wahrnehmungsprobleme im Sandmann

Aufgabe:

  1. Analysieren Sie den folgenden Text im Hinblick auf das im Titel angesprochene Probleme der Wahrnehmung.
  2. Prüfen Sie anschließend, inwieweit die Ausführungen auf Nathanael, die Hauptfigur der Novelle zutreffen. Berücksichtigen Sie dabei wichtige Textstellen, in denen die Augen bzw. das ihre Möglichkeiten erweiternde, aber auch verengende Perspektiv eine Rolle spielt.

Mia Bingosa

Wahrnehmungsprobleme in E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“

Seit Immanuel Kant wissen wir, dass nichts so ist, wie es uns erscheint. Das „Ding an sich“ versteckt sich hinter den Kategorien unseres Bewusstseins. Zeit, Raum, Kausalität – alles Hilfsmittel, die die Evolution uns geschenkt hat, damit wir überhaupt in der echten Realität überleben können. Glücklicherweise muss man das nicht wissen – und wenn man es weiß, kommt ein weiteres Hilfsmittel der Evolution hinzu, nämlich die fantastische Möglichkeit, nach dem Erkenntnis-Schock in eine beruhigende Normalitätswahrnehmung zurückzufinden. Es könnte höchstens passieren, dass wir auf dem Heimweg aus einer Kant-Vorlesung jemanden teffen, der bei uns jenen Grad an Interesse, Faszination und dann Verliebtheit auslöst, der uns alles durch die berühmte rosa Brille sehen lässt. Und wenn dann nichts draus wird, muss das Geschenk des Vergessens auf einer höheren Ebene greifen und uns einigermaßen schonend aus der Verirrung heraushelfen – soweit sich nicht nach einigen Wochen Spätfolgen intensiver Gemeinsamkeit ankündigen.

Was hat das alles nun mit E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“ zu tun? Nun wir haben uns erst mal die ganz normale Komplexität unsrer Wahrnehmung der Realität klargemacht.

Was aber geschieht, wenn diese Normalität durch ein besonderes Ereignis erweitert oder auch verengt wird. Dann entsteht eine Art Verletzung, die als Wunde sich schließen, aber auch wieder aufbrechen kann. So etwas nennt man in der Psychologie „Trauma“, wenn damit eine innere Erschütterung verbunden ist, die sehr unterschiedliche Folgen mit sich bringen kann.

Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung kann es zu Übererregbarkeit kommen, zu Flashbacks, also plötzlichem Wiedererleben von Vergangenem kommen.  Es kann aber auch zu emotionaler Taubheit oder Depression führen, zu einer allgemeinen Hilflosigkeit, die mit einer Erschütterung des Ich- und Weltverständnisses zusammenhängt.

Wenn also eine Situation entsteht, in der gewissermaßen eine innere Empfänglichkeit durch einen entsprechenden Außen-Impuls angeregt wird, kann es sein, dass innere Gegebenheiten in etwas Äußeres hineingespiegelt werden und entsprechend wieder zurückkehren. Das kann zu einer völlig verzerrten Wahrnehmung der uns Menschen möglichen „normalen“ Wirklichkeit führen, die dann völlig unverständlich erscheint.

Je nachdem, was einem traumatisierten Menschen dann zurückgespiegelt wird, kann es zu völlig unverständlichen Handlungen kommen mit Selbst- und Fremdgefährdung – und das wird in Hoffmanns Novelle ja beeindruckend präsentiert – in Zwischenstufen und schließlich in einem tödlichen Finale.

aus:
Durchblicke bis auf Widerruf – Online-Zeitschrift für Schule und Studium, Ausgabe 5/2024