Mündliche Abiturprüfung: Thema „Lessing zwischen Aufklärung und Sturm und Drang“ („An den Herrn Marpurg“) (Mat2231)

Worum es hier geht:

  • Präsentiert wird hier eine mündliche Abiturprüfung.
  • Ausgangspunkt ist ein Gedicht von Lessing, das zwischen Aufklärung und Sturm und Drang steht.
    Vor diesem Hintergrund ist dieser Fall sehr interessant: Es wird deutlich, weil sich ein Text nicht eindeutig einer Epoche zuordnen lässt – bzw. im Idealfall über sie hinausweist.
  • Im zweiten Teil der Prüfung geht es dann um die Novelle „Michael Kohlhaas“ von Kleist mit einer Überleitung zu Dürrenmatts „Die Physiker“. Das präsentieren wir aber auf einer separaten Seite.

Aufgabenstellung und Text: Lessing, „An den Herrn Marpurg“

Analysieren Sie den folgenden Gedichtauszug unter besonderer Berücksichtigung literaturgeschichtlicher Bezüge!

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781),

An den Herrn Marpurg

über die Regeln der Wissenschaften zum Vergnügen;

besonders der Poesie und Tonkunst

(Auszug)

 

Vom Setzen, Dichten, Malen,

Lehrt auch das kleinste Buch, wo nichts verstehn, doch prahlen.

Der Schwätzer hat den Ruhm: dem Meister bleibt die Müh.

Das ist der Regeln Schuld, und darum tadl‘ ich sie.

05       Doch meinet man vielleicht, dass sie dem Meister nützen?

Man irrt; das hieß die Welt mit Elefanten stützen.

Ein Adler hebet sich von selbst der Sonne zu;

Sein ungelernter Flug erhält sich ohne Ruh.

Der Sperling steigt ihm nach, so weit die Dächer gehen,

10       Ihm auf der Feueress, wanns hoch kommt, nach zu sehen.

Ein Geist, den die Natur zum Mustergeist beschloss,

Ist, was er ist, durch sich; wird ohne Regeln groß.

Er geht, so kühn er geht, auch ohne Weiser sicher.

Er schöpfet aus sich selbst. Er ist sich Schul und Bücher.

15       Was ihn bewegt, bewegt; was ihm gefällt, gefällt.

Sein glücklicher Geschmack ist der Geschmack der Welt.

Wer fasset seinen Wert? Er selbst nur kann ihn fassen.

Sein Ruhm und Tadel bleibt ihm selber überlassen.

Fehlt einst der Mensch in ihm, sind doch die Fehler schön;

20       Nur seine Stärke macht, dass wir die Schwäche sehn.

Anmerkungen zum Text:

Überschrift:   Beim Herrn Marpurg ist von einem Dichterkollegen auszugehen, an den sich Lessing in einem Gedicht wendet.

01       Setzen = Tonsetzen, Musikstücke schreiben

02       „wo nichts verstehn“: Gemeint ist: „die nichts verstehn“

04       „Regeln“: Hier sind Regeln für den Künstler gemeint, an die er sich zu halten hat.

06       „das hieß“: das hieße, das würde heißen bzw. bedeuten

10       „Feueress“: Schornstein

10       „wanns“: wenn es

11       „beschloss“: vorsah, machte

13       „Weiser“: Wegweiser

19       „Fehlt“: Hier im Sinne von „macht einen Fehler“


Leistungserwartungen
  • Formaler Aufbau des Gedichts:
  • ·      eine einzige, nicht weiter gegliederte Versgruppe mit insgesamt 20 Versen
  • ·      wobei bis auf die erste Zeile durchgängig Alexandriner verwendet werden.
  • ·      Ebenso streng durchgehalten wird der Paarreim.
  • Inhaltserläuterung – Einstieg und Kommunikationssituation
  • textinterne Gliederung: Ausgangspunkt ist das für die Aufklärung typische Phänomen der künstlerischen Anweisungsbücher (1/2). Direkt anschließend werden die Folgen kritisiert (3/4).
  • In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert, dass die Schüler, ausgehend von der Überschrift, die fiktive Kommunikationssituation beschreiben. Dabei müssen sie nicht wissen, wer der angesprochene „Herr Marpurg“ ist, ob es sich um eine reale oder fiktive Gestalt handelt. Aus dem Zusammenhang des gesamten Gedichtes geht recht eindeutig hervor, dass Marpurg wohl die konträre Ansicht vertritt, also die Regelhaftigkeit literarischen Schaffens betont.
  • Das Bild von Adler und Sperling
  • In den Zeilen 5 bis 10 wird am Beispiel von Adler und Sperling der Unterschied zwischen angeborenen Fähigkeiten und ebenso natürlichen Beschränktheiten aufgewiesen.
  • Hervorhebung des Genies – ohne dass der Begriff fällt
  • In den Zeilen 11 bis 18 wird dann das eigentliche Thema des Gedichtauszugs entwickelt: das Genie (ohne dass dieser Begriff fällt!). Hier wird besonders herausgestellt, dass jeder außergewöhnliche Geist selbst die Maßstäbe setzt, auf Regeln und Vorschriften anderer nicht angewiesen ist, damit auch nicht ihrem Urteil unterliegt.
  • Die Frage der Schwächen/Fehler
  • Die letzten beiden Zeilen beschäftigen sich dann mit den möglichen Schwächen eines solchen Originalgenies. Diese werden relativiert und entschuldigt, ja fast zu einem Vorzug erklärt.
  • Zusammenfassung des Inhalts
  •  bietet sich die Herausarbeitung zweier Gegensatzgruppen an:
  • Zum einen geht es um Elemente, gegen die der Sprecher sich wendet: den Lernkünstler, das Aufstellen und Befolgen fester Regeln, die damit verbundene Mühe und scheinbare Fehlerlosigkeit sowie die Leichtgewichtigkeit der entsprechenden Literatur („Schwätzer“, 3)
  • Positiv werden demgegenüber hervorgehoben das natürliche Können, das die Regeln in sich selbst trägt, sowie die Menschlichkeit eines entsprechenden literarischen Schaffens, bei dem selbst „Fehler schön“ (19) sind
Textintention
  • könnte festgehalten werden, dass Lessing sich in diesem Gedichtauszug gegen die Regelkunst der Aufklärung und für das Originalgenie des Sturm und Drang ausspricht
Künstlerische Mittel:
  • Antithetik, – Bildhaftigkeit, – Spezifische Kommunikationssituation: seltsames Phänomen der starken Regelhaftigkeit, starre Form
  • Literaturgeschichte
    • Es ist nicht genauer auf Gottsched und Co eingegangen worden, wohl aber auf die Regelhaftigkeit.
    • Dagegen zu stellen wären die Auffassungen des Sturm und Drang.
    • Im Unterricht ist in diesem Zusammenhang das Gegensatzpaar „Genie haben“ und „Genie sein“ herausgestellt worden, was als Orientierungsrahmen gelten kann.
    • Herangezogen werden könnte auch Goethes Faust, der ja vielfältige Sturm-und-Drang-Bezüge aufweist und selbst als Original-Genie gelten kann.
    • Schön wäre es, wenn die Schüler auch am Beispiel Lessings deutlich machen würden, dass dieser die scheinbar eindeutigen Epochengrenzen übersteigt.

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