Opitz, Carpe diem (Mat8676)

Worum es hier geht:

Wir präsentieren hier ein Barockgedicht, das auch fordert, man solle den Tag genießen – angesichts der Endlichkeit des menschlichen Lebens.

Der Tod wird aber nicht als ein Übergang in den Himmel angesehen, auf den man sich vorbereiten soll – wie das in anderen Barockgedichten üblich ist. Hier geht es um reinen Lebensgenuss – allerdings etwas vordergründig bzw,. oberflächlich. Man hat den Eindruck eines reinen Trinkliedes, das seine Bedeutung verliert, wenn man auch schon den Ort weinseliger Gastlichkeit verlässt.

Martin Opitz

Carpe diem

Ich empfinde fast ein Grauen,
dass ich, Plato, für und für
bin gesessen über dir.
Es ist Zeit hinauszuschauen
und sich bei den frischen Quellen
in dem Grünen zu ergehn.
wo die schönen Blumen stehn
und die Fischer Netze stellen!

  • Die Überschrift führt bei jedem, der sich in der Barockzeit auskennt, zu folgender Auffassung:
  • Wahrscheinlich ist das auch eins dieser Gedichte, die deutlich machen, dass das Leben endlich ist, man jeden Tag nutzen soll, sich aber ansonsten auf das Jenseits vorbereiten muss.
  • Die erste Strophe setzt aber einen ganz anderen Akzent. Denn das lyrische Ich sprecht sich dort eher gegen zu viel Beschäftigung mit antiken Philosophen aus.
  • Stattdessen will es lieber die Schönheit der Natur genießen.

Wozu dienet das Studieren
als zu lauter Ungemach!
Unterdessen läuft die Bach
unsers Lebens, das wir führen,
ehe wir es inne werden,
auf ihr letztes Ende hin;
dann kömmt ohne Geist und Sinn
dieses alles in die Erden.

  • Die zweite Strophe behauptet dann, dass das Studieren eigentlich nur unerfreuliche Dinge mit sich bringt, während der eigentliche Fluss des Lebens sich schnell seinem Ende nähert.
  • Dann geht es aber nicht in den Himmel, so ein, sondern nur einfach unter die Erde.

Holla, Junger, geh und frage,
wo der beste Trunk mag sein,
nimm den Krug und fülle Wein!
Alles Trauren, Leid und Klage,
wie wir Menschen täglich haben,
eh uns Clotho fortgerafft,
will ich in den süßen Saft,
den die Traube gibt, vergraben.

  • Die dritte Strophe wendet sich dann noch mehr den einfachen Freuden des Lebens zu.
  • Diesmal geht es um das Trinken von Wein.
  • In diesem wird die Möglichkeit gesehen, alles Traurige des Lebens gewissermaßen zu vergraben.

Kaufe gleichfalls auch Melonen
und vergiss des Zuckers nicht,
schaue nur, dass nichts gebricht!
Jener mag der Heller schonen,
der bei seinem Gold und Schätzen
tolle sich zu kränken pflegt
und nicht satt zu Bette legt;
ich will, weil ich kann, mich letzen!

  • In der vierten Strophe geht es dann um Süßigkeiten, die man sich gönnen soll.
  • Bedauert werden die Leute, die nur an ihr Geld denken und sogar auf das Sattsein verzichten, nur um zu sparen.
  • In der letzten Zeile dann das trotzige Bekenntnis, dass man sich möglichst viel gönnen will, nur weil man es einfach kann.

Bitte meine guten Brüder
auf die Musik und ein Glas!
Kein Ding schickt sich, dünkt mich, baßt
als gut Trank und gute Lieder.
Lass ich gleich nicht viel zu erben,
ei, so hab ich edlen Wein!
Will mit andern lustig sein,
muss ich gleich alleine sterben.

  • In der letzten Strophe wendet sich das lyrische Ich dann an seine „guten Brüder“ und hebt zu einem Trinkspruch an
  • Dieser macht deutlich, dass es am schönsten ist, wenn man gemeinsam einen guten Tropfen trinkt und gute Lieder singt.
  • Verzichtet wird auf jede Perspektive des Ansammelns von Reichtum, den man dann vererben kann.
  • Es reicht dem lyrischen Ich, wenn es edlen Wein hat und mit anderen lustig sein kann.
  • Am Ende dann aber doch der knappe Hinweis darauf, dass der Schluss des Lebens bedeutet, dass man alleine sterben muss.
Insgesamt ein Gedicht,
  • das fasst schon im Stil der Romantik dem reinen Gelderwerb abschwört und sich der Natur und ihren Gaben zuwendet.
  • Aber insgesamt wirkt das Gedicht doch etwas oberflächlich, wie eben ein reines Trinklied.
  • Im Hintergrund lauert auf jeden Fall der für die Barockzeit typische Tod, allerdings ohne Ewigkeitsperspektive, stattdessen beschränkt auf einen schmerzlichen Schlusspunkt.
  • Das – so will das Gedicht sagen –  soll einen aber nicht abhalten, das Leben selbst in vollen Zügen zu genießen.
  • Es könnte interessant sein, dieses Gedicht mit dem Anfang von Schillers, „An die Freude“ zu vergleichen – dann dürften doch einige Unterschiede deutlich werden.
    https://de.wikipedia.org/wiki/An_die_Freude

Auch die äußere Form ist weit von der Barock-Normalität entfernt:

  • keine Sonettform,
  • kein Alexandriner, sechshebiger Jambus mit Zäsur in der Mitte, stattdessen ein vierhebiger Trochäus.
  • In den Strophen zwei umarmende Reime – man könnte sagen: Soviel Umarmung passt auch zum Inhalt 😉
  • Die Versschlüsse bzw. Kadenzen entsprechen dann dem Reim, wechseln sich regelmäßig ab – auch das passt zumindest zu einer Situation, in der – um einen alten Dreiklang zu zitieren – „Wein, Weib und Gesang“ zusammengehören.
    Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wein,_Weib_und_Gesang