Oskar Maria Graf, „Heimat überall“ – ein Gedicht mit einem sehr offenen Schluss (Mat6144)

Worum es hier geht:

Vorgestellt wird ein Gedicht, das bis kurz vor Schluss ganz einfach zu sein scheint. Es wird nur die Frage aufgeworfen, warum einem ein anscheinend vertrauter Raum plötzlich ganz anders vorkommt – wie eine ganze Welt.

Am Ende dann zwei Zeilen, die alle Lesenden ganz schön fordern, mit dem Ergebnis, dass man um einen eigenen Erklärungsversuch nicht herumkommt.

Hier gilt also wirklich, dass Kunst und eben auch ein Gedicht seine volle Bedeutung erst erlangt, wenn der Betrachtende, hier also der Lesende, seinen Teil zum Verständnis beiträgt.

Gefunden haben wir das Gedicht hier.
http://www.oskarmariagraf.de/werk-ausgewaehlte-texte-heimat-ueberall.html

Aus Gründen des Urheberschutzes haben wir auf den Abdruck hier verzichtet. Man kann sich das Gedicht ja leicht an der gegebenen Stelle anschauen.

Nachtrag wird zur Vorbemerkung:
  • Hier müssen wir leider zeigen, wie wir fast einem unserer größten Interpretationsfehler zum Opfer gefallen sind:
    • Da haben wir uns mit den beiden Schlusszeilen erst mal richtig Mühe gegeben – waren auch ganz zufrieden ist mit uns.
    • Dann mussten wir aber erkennen , dass zu frühe Zufriedenheit bei einer Interpretation eine sehr schlechte Sache ist.
      Bei uns ist es zum Beispiel häufig so, dass wir so in die Verszeilen und ihr Verständnis vertieft sind, dass wir glatt die Überschrift vergessen.
      Was dann aber herauskommt, wenn wir zerknirscht an die Erweiterung oder sogar Korrektur unserer Interpretation gehen, zeigen wir am Ende dieser Seite 😉
Anmerkungen zu Strophe 1
  • Das Gedicht beginnt mit einer Art Ausruf des Staunens:
  • Das bezieht sich auf Elemente der Natur, das Gras und einen wohl bestimmten See.
  • Die Reaktion ist Verwunderung und die Frage des lyrischen Ichs, was mit ihm geschehen sei.
  • Hervorgehoben wird dann, wie gut dem lyrischen Ich die Umgebung doch bekannt ist, was die Verwunderung unterstreicht.
  • Am Ende der ersten Strophe führt das dazu, dass das lyrische Ich gerne an diesem Ort bleiben will,
  • ganz fasziniert von den am Anfang beschriebenen Natureindrücken .
Anmerkungen zu Strophe 2
    • Zu Beginn der 2. Strophe dann der Vergleich mit den eigenen „Kindertagen“, also ein Blick in die Vergangenheit.
    • Noch einmal wird der Gegensatz betont zwischen „erstaunt“ und „tief bekannt“.
    • Auch hier wieder mündet alles in das „nicht zu sagen“ können.
    • Was den Bezug angeht, weiß man nicht genau wie das „wie“ zu verstehen ist in Zeile 13: Es könnte bedeuten „wie sehr“ (wahrscheinlich, weil es zum Anfang passt) oder auch: „auf welche Weise“.
    • Am Ende dann ein Vergleich mit einer Situation, in der die eigene Heimat „eine Welt umgreifen kann“. Das bedeutet wohl, dass das lyrische Ich hier ganz viel sieht oder auch empfindet und das gar nicht komplett erfassen kann.
    • Das würde bedeuten, dass in einem solchen Blick der Konzentration auf einen ganz bestimmten Ort und der damit verbundenen Faszination sich eine ganze Welt auftut.
    • Am Ende dann eine seltsame Wendung, die diesen Schritt in eine unendliche Welt verbindet mit dem Gefühl, hier nicht mehr fremd zu sein.
Versuch einer Deutung
  • Als Deutungshypothese bietet sich an, dass man die Heimat für vertraut gehalten hat, sie einem aber doch aus der Rückschau zumindest fremd vorgekommen ist. Das hat sich in diesem Moment einer Art Weltöffnung auf kleinstem Raum verändert.
  • Ein kreativer Verständnisversuch könnte darauf hinauslaufen, dass das lyrische Ich an dem Platz steht frisch verliebt ist. Das geliebte Gegenüber ist zwar nicht da, aber das lyrische Ich nimmt in dieser Situation zumindest die Umgebung anders und viel weiter wahr. Sie bekommt also eine neue Qualität – man könnte dann auch sagen, dass das ein Bild für die neue Welt der Liebe mit ihren unendlichen Möglichkeiten.
Nachtrag: Aber Vorsicht: Die Überschrift einbeziehen!!!
    • Tja, da ist es uns mal wieder passiert. Wir waren so mit den Verszeilen des Gedichtes beschäftigt, dass wir die Überschrift außer Acht gelassen haben.
    • „Heimat überall“ kann sich eigentlich nicht auf unsere Deutungssituation beziehen. Denn wir sind ja von einer Nicht-überall-Heimat ausgegangen, also der wirklichen.
    • Schauen wir uns jetzt an, wie man die beiden letzten Zeilen mit der Überschrift gemeinsam auswerten kann:

„Heimat überall“

„als würde meine Heimat eine Welt umgreifen,
als wär‘ ich nicht mehr fremd in diesem Land …“

  • Neue Deutungshypothese:
    • Das lyrische Ich ist offensichtlich in der Fremde, dafür sprechen die letzten vier Wörter.
    • Dann ist zumindest klar, dass das intensive Sich-hinein-Fühlen in die Umgebung die Fremdheit aufhebt.
    • Das neue Heimatgefühl ist eng verbunden mit der Erinnerung an eine Kindheitssituation, in der es dem lyrischen Ich ähnlich ergangen ist: Es war „erstaunt und dennoch tief bekannt“.
    • Die einfachste Erklärung wäre letztlich, dass es Situationen gibt, in denen man die Natur so intensiv wahrnimmt, dass die räumliche Situation an Bedeutung verliert.
    • Es wäre dann die letztlich überall gleiche Natur (zumindest als Möglichkeit bei Gras und See), die auf einer bestimmten Bewusstseinsebene Vertrautheit schafft und (alte = neue) Heimat.
    • Wenn diese Deutung überzeugt zumindest als eine Möglichkeit, die der Text zulässt, wäre dieses am Anfang scheinbar ganz einfache, fast ein bisschen naive Gedicht ein besonderes Kunstwerk mit außergewöhnlicher Strahlkraft: Dieses lyrische Ich hat dem lesenden Ich offensichtlich ganz viel zu sagen, verrät ihm ein Geheimnis, das so tief reicht, wie der im Gedicht beschriebene Blick in die Natur.
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