Profi Freisteins Tafel: Klärung der Frage: Darf man ein Gedicht weiterdenken? (Mat5033-fs4)

Worum es hier geht:

Als wir uns mal wieder mit einem Gedicht von Karoline von Günderrode beschäftigt haben,
https://textaussage.de/einen-text-auslegen-karoline-von-guenderrode-liebe
wurde uns klar, dass
Hermeneutik, also das Verstehen dessen, was im Gedicht präsentiert wird, nicht immer reicht.
Was darf man dann als Leser machen?

Schauen wir uns das mal ganz systematisch an:

  1. Ein Gedicht ist ein Text mit Aussagen.
    Es zeigt etwas – Beobachtungen, Gedanken, Gefühle – und grundsätzlich reicht es erst mal, wenn man einfach beschreibt, was das lyrische Ich da von sich gibt.
    Beispiel: Zeile 1 des Gedichtes
    O reiche Armut! Gebend, seliges Empfangen!“
    Dann schreibt man: Das Gedicht beginnt mit einem provokativen Gegensatz: Es geht um eine Armut, die reich ist.
    Und Davor steht die Überschrift „Liebe“ – also ist die Liebe eine Armut, die gleichzeitig auch reich ist.
    Das wird dann noch etwas weiter ausgeführt:
    Die Liebe ist ein „seliges Empfangen“, während man selbst „gebend“ ist.

  2. Die gute Nachricht: Hermeneutik hilft beim Verstehen.
    Man beginnt mit einem ersten Eindruck, einem sogenannten „Vorverständnis“.
    Dann prüft man beim weiteren Lesen, ob dieser Eindruck sich bestätigt, verändert oder differenziert.
    Die nächsten Zeilen sehen so aus:

    In Zagheit Mut! in Freiheit doch gefangen.
    In Stummheit Sprache,
    Schüchtern bei Tage,
    Siegend mit zaghaftem Bangen.

    Hier sieht man, dass es weitere Gegensätze gibt, die zur Liebe gehören.

  3. Jetzt  kommt die Herausforderung – der möglichst weitgehenden Erklärung von Andeutungen
    Kein Mensch begnügt sich mit der Feststellung von immer neuen Gegensätzen.
    Jetzt will man wissen, wie man das im Hinblick auf Liebe verstehen soll.

    • In der Liebe ist man durchaus hin und wieder verzagt, findet aber zum Mut zurück – weil (Hypothese) das geliebte Gegenüber es einem leicht macht,
    • Auch wenn man „stumm“ ist, wird man vom geliebten Gegenüber verstanden. Zumindest merkt es, dass man ein Problem hat und nimmt einen erst mal in den Arm.
      „Schüchtern bei Tag“ – kann man verstehen in der Öffentlichkeit, wenn es dunkel ist und man allein ist, zeigt sich die Liebe nicht mehr schüchtern.
    • „Siegend mit zaghaftem Bangen“
      Hier könnte man wieder argumentieren, dass es in der Liebe „zaghafte“  und „bange“  Zwischenstufen gibt, aber am Ende siegt man gemeinsam.
  4. Die weniger bequeme Nachricht:
    Es gibt auch Gedichtzeilen, die so extrem sind, dass man ziemlich mutig sein muss bei der Interpretation.
    Lebendiger Tod, im Einen sel’ges Leben“
    Dann sagt man nicht mehr mutig: Das kann man so verstehen …
    Sondern: Hierfür gibt es keine einfache Erklärung mehr, indem man sich einfach in die Situation hineinversetzt und sie nachvollzieht.

    In solchen Fällen benennt man zunächst offen die Schwierigkeit – und schlägt dann eine mögliche Deutung vor, die sich nicht direkt aus dem Text ergibt, aber mit seiner Gesamtaussage in Einklang steht.

    In diesem Fall:
    Man überträgt den „Tod“ auf das Absterben von Elementen aus der Zeit vor der Liebe, wobei neue Lebendigkeit entsteht.
    Zum Beispiel reduziert man das eine oder andere Hobby und macht dafür mit dem geliebten Gegenüber einen Schritt in eine neue Welt, die man vorher gar nicht kannte.
    „im Einen“ bedeutet dann, dass man wie die zwei Hälften einer Kugel erst zusammen ein Ganzes ergibt.
    Und wenn man das hat, ist die Formulierung „sel’ges Leben“ nur noch etwas altmodisch.
    Aber wer mal glücklich verliebt war, kann das nachvollziehen.

  5. Fassen wir zusammen:
    Was tun, wenn das Gedicht eine inhaltliche Lücke lässt, nur Andeutungen macht:
    Dann darf der Leser diese Lücke füllen.
    Den bekannten Spruch: „Kunst entsteht im Auge des Betrachters“
    passen wir auf das Verständnis von Gedichten  an:
    „Ein Gedicht wird nicht durch den Dichter vollendet – sondern durch das, was der Leser darin entdeckt und (be)gründet.“
    Wichtig ist der Schluss – also kein wildes Fantasieren – sondern Suche nach einer Erklärung, die auch andere überzeugt – oder die den Nebel des Nicht-Verständnisses zumindest ein bisschen lüften.
    Sie  muss sich also von der Textstelle herleiten und zur Gesamtaussage des Gedichtes passen.
    Fazit – jetzt in den blumigen Worten unseres Herrn Freistein:
    Weiterdenken ist erlaubt – wenn es notwendig wird, wenn es dem Text entspricht und wenn es als Möglichkeit formuliert wird.
    Interpretation ist kein Eigentor – sondern ein Spielzug in Richtung Verstehen.
    Und letztlich nicht für den Lehrer geschrieben, sondern für andere Leser – damit man gemeinsam weiterdenken kann.

Und um die Frage am Anfang zu beantworten:
Der Leser darf nicht nur weiterdenken, manchmal muss er es geradezu.

Dann hoffen wir mal auf verständnisvolle Lehrkräfte, die wissen, dass nicht alle Gedichte für den Deutschunterricht und die Analyse geschrieben worden sind – und dass man deshalb Schülis ermutigen sollte, sich auf das Gedicht einzulassen, es sauber aufzunehmen und dort für sich und andere zu ergänzen, wo es lückenhaft wird oder sogar zum Rätsel.

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