Rilke, „Der Fremde“ – ein sehr „romantisches“ Gedicht

Worum es hier geht:

Vorgestellt wird das Gedicht „Der Fremde“ von Rilke, das wir hier gefunden haben.

Es zeigt eine Grundhaltung, die in vielem der Romantik entspricht, auch wenn Rilke zu Beginn des 20. Jhdts. geschrieben hat. Wieder mal ein schönes Beispiel dafür, dass die „Moden“ bleiben, auch wenn die aktuellen „Normen“ sich ändern.

 Rainer Maria Rilke

Der Fremde

Anmerkungen zu Strophe 1:

Ohne Sorgfalt, was die Nächsten dächten,
die er müde nichtmehr fragen hieß,
ging er wieder fort; verlor, verließ -.
Denn er hing an solchen Reisenächten

  • Das lyrische Ich beschreibt in einem recht feierlichen Ton jemanden, der einfach zu einer neuen Reise aufbricht, obwohl es schon Nacht ist oder wird.
  • Man ist gespannt, was dahintersteckt. Es erinnert einen an die Liebe der Romantiker zur Nacht.
  • Wichtig ist auch noch, dass der „Fremde“ – um den wird es sich wohl handeln – keine Rücksicht auf die „Nächsten“ nimmt, also die ihm, die ihm innerlich oder auch rein äußerlich-sachlich nahestehen.
  • Er ist anscheinend oft gefragt worden – und will das nicht mehr.
  • Insgesamt wird hier ein ziemliches Spannungspotenzial aufgebaut.
Anmerkungen zu Strophe 2:

anders als an jeder Liebesnacht.
Wunderbare hatte er durchwacht,
die mit starken Sternen überzogen
enge Fernen auseinanderbogen
und sich wandelten wie eine Schlacht;

  • Hier gibt es eine direkte Überleitung von der ersten zur zweiten Strophe, einen sogenannten Strophensprung.
  • Neben den Signalen Liebe zu Reisenächten und Distanz zu anderen Menschen kommt hier noch der Gegensatz zwischen Reisenacht und Liebesnacht hinzu.
  • Auch das trennt diesen Reisenden sicher von den meisten anderen Menschen.
  • Es folgen vier Zeilen, die die Liebe zu den Reisenächten etwas deutlicher machen:
    • Es geht offensichtlich um intensive Erfahrungen,
    • die etwas mit dem Sternenhimmel zu tun haben
    • und die Vorstellung weiten.
    • Seltsam ist die letzte Zeile – die darf man wohl nicht zu ernst nehmen, denn eine Veränderung in der Schlacht kann ja auch zur Niederlage führen.
    • Betont werden soll wohl, dass es bei diesen Reisen um viel geht – auch das wieder eine romantische Vorstellung, auch wenn Rilke zeitlich natürlich nicht mehr zur Romantik gehört.
    • Verbunden damit ist natürlich auch ein besonderes Herausgefordert-Sein.
Anmerkungen zu Strophe 3:

andre, die mit in den Mond gestreuten
Dörfern, wie mit hingehaltnen Beuten,
sich ergaben, oder durch geschonte
Parke graue Edelsitze zeigten,
die er gerne in dem hingeneigten
Haupte einen Augenblick bewohnte,
tiefer wissend, dass man nirgends bleibt;
und schon sah er bei dem nächsten Biegen
wieder Wege, Brücken, Länder liegen
bis an Städte, die man übertreibt.

  • Es folgen wieder sehr ausdrucksstarke Vorstellungen von Dörfern, die im Mondlicht erscheinen.
  • Auch sie werden mit dem Phänomen Schlacht bzw. Krieg verbunden, wenn von Beute die Rede ist.
  • Dann stellt das lyrische Ich sich für diesen Fremden vor, wie ihm Parks vorkommen wie „Edelsitze“, also so etwas wie Schlösser.
  • Interessant die Verbindung zwischen ihnen und dem Reisenden. Er wendet sich ihnen zu und stellt sich vor, dass er sie „einen Augenblick“ lang bewohnt. Anblick und Fantasie reichen ihm aus, um das, was er sieht, für sich zu vereinnahmen.
  • Es folgt eine Erklärung für das in der ersten Strophe gezeigte Verhalten, nämlich das Bewusstsein, „dass man nirgends bleibt“. Hier hat man den Eindruck einer gewissen Ruhelosigkeit, die aber diesen Menschen anscheinend ausreichend erfüllt, ja sogar glücklich macht.
  • Es folgt eine Aufzählung weiterer Reisepunkt und ein auf den ersten Blick wieder rätselhafter Hinweis auf Städte, „die man übertreibt“. Hier ist man beim Lesen wieder gefordert: Es könnte bedeuten, dass man ihre Größe oder auch das Licht, das sie nachts verbreiten, unangemessen findet – schon wieder etwas, das an Romantik erinnert.
Anmerkungen zu Strophe 4:

Und dies alles immer unbegehrend
hinzulassen, schien ihm mehr als seines
Lebens Lust, Besitz und Ruhm.
Doch auf fremden Plätzen war ihm eines
täglich ausgetretnen Brunnensteines
Mulde manchmal wie ein Eigentum.

  • Die letzte Strophe bietet dann eine Art Zusammenfassung:
  • Betont wird, dass man das alles, was man sieht, nicht begehrt.
  • Die Begründung: Dieser Mensch will sich nicht ansiedeln, heimisch werden.
  • Gerade die ständige Sehnsucht nach Neuem – wieder ein romantisches Motiv – ist dem Fremden wichtiger als die wohl normale Lust des Lebens – auch an materiellem „Besitz“ oder an ideellem „Ruhm“.
  • Am Ende dann doch noch ein bisschen Heimat und Eigentum – absolut reduziert auf eine „Mulde“ eines „täglich ausgetretenen Brunnensteines. Das heißt: Wenn dieser Fremde irgendwo an einem Brunnen (also in der Nähe von Leben spendendem Wasser) auf die Hinterlassenschaft anderer Menschen trifft, dann wird das für ihn zu kurzzeitigem „Eigentum“.
  • Anregung: Hier kann jeder mal selbst überlegen, wo und bei welcher Gelegenheit er auch mal auf so kurzzeitige und doch anscheinend wohltuende Weise von etwas Besitz ergriffen hat. Das kann zum Beispiel, wie uns Lars Krüsand erzählte, auch auf einer Wanderung eine Blumenblüte sein, die es geschafft hat, sich durch eine Bretterwand hindurchzumogeln.
Zusammenfassung – Aussagen – Intentionalität

Insgesamt ein Gedicht, das deutlich in einem hohen Ton verfasst worden ist, ein bisschen an eine Legende o.ä. erinnert.

Beschrieben wird eine Art von Fremdsein, die einen Menschen trotzdem glücklich machen kann.

Anregungen zum Nach-Denken und Kreativ-Sein:
  1. Es ist natürlich ein Produkt der Fantasie – und kann durchaus zu einem Gegengedicht herausfordern.
  2. Das könnte zum Beispiel anders enden als an einem Brunnen, nämlich in den Armen eines anderen Menschen, bei dem man noch auf ganz andere Art und Weise sein Glück findet.
    • Man kann den Fremden natürlich auch an einem Brunnen sich den Magen verderben lassen – und dann wäre ein Krankenhaus schön in einer Stadt, die medizinisch vielleicht „übertreibt“, aber diesem Fremden das Leben retten kann.
    • Vielleicht muss er anschließend einige Zeit in der Küche abwaschen, um die Behandlungskosten zu begleichen.
  3. Natürlich könnte man auch ein eigenes Gedicht schreiben, das in die gleiche Richtung geht – nur eben unter Berücksichtigung unserer heutigen Lebenswirklichkeit.

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