Robert Seethaler „Der Trafikant“ – Endgültiger Abschied von Anezka (Mat1713-14)
Worum es hier geht:
Wir wollen den Roman von Robert Seethalter möglichst so vorstellen, dass man
gleich weiß, worum es geht,
Durchblick beim Inhalt
und beim Aufbau des Romans hat,
Hinweise zum Verständnis bekommt
und zur Frage, was man damit anfangen kann.
Endgültiger Abschied von Anezka
Nach der Nachricht vom Tod seines Chefs geht Franz auf den Kahlenberg, um alles zu verarbeiten, vor allem die erneut aufgenommene Zeitungslektüre.
In einem längeren Abschnitt wird in erlebter Rede die propagandistisch beschönigte Gegenwart wiedergegeben, wie sie sich jetzt in der Presse findet.
“ Er musste an die Zeitungen denken, an die Schlagzeilen. So viel Aufregung, so viel gedrucktes Geschrei. Und doch war alles in Ordnung, schienen sie zu sagen, im Grunde genommen lief alles prächtig, wunderbar, hervorragend, ja geradezu fabelhaft! Natürlich wurde gerade Geschichte geschrieben – aber wann wurde das nicht? Umbrüche fanden statt – aber waren die nicht auch nötig? Staatsfeindliches Vermögen von Kommunisten und Querdenkern wurde beschlagnahmt – aber war das nicht nur gerecht? Jüdische Besitztümer wurden eingezogen, ihre Geschäfte geschlossen und von braven Bürgerinnen und Bürgern weitergeführt – aber waren das nicht einfach nur längst überfällige Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in unserer gemütlichen Wienerstadt? In unserem duldsamen, gottgeliebten Staate Österreich? Es geht ja voran! Es ist ja was los! Es tut sich ja allerorten was!“ (199)
Ein typisches Beispiel für eine erzählerische Darstellungsweise, bei der der Erzähler direkt die Gedanken der anderen Seite wiedergibt, aber das Tempus des Präteritums und damit einen Rest an erzählischen Distanz beibehält. Erst in den zwei letzten Sätzen wird das aufgegeben – und man liest direkt das, was in den Zeitungen steht.
Am Ende steht die Einsicht, dass jetzt alles möglich ist: „Wer das Gesindel vom Straßenpflaster fegt und die jüdischen Ratten aus ihren Löchern bläst, wer Hakenkreuze ins Seeufer pflanzt und einen Dampfer Heimkehr nennt, wer Trafikanten erschlägt und Mütter auf ungemachte Betten wirft, wer tagsüber am Heldenplatz eine Legion von Händen gegen den Himmel reckt und abends brüllend durch die Gassen rennt, der würde auch das Riesenrad aus seinen Angeln heben oder eine kleine, grüne Grotte in den Erdboden stampfen.„
Dies versetzt Franz in eine solche Erregung, dass er den Berg hinunterstürzt und zu der Grotte rennt, in der Anezkas Auftritt aber schon vorbei ist.
Er findet sie in der Garderobe und versucht jetzt, sie endgültig für sich zu gewinnen:
„Anezka, ich versteh es ja selber nicht, alle sind verrückt geworden,
die Leute schmeißen sich von den Dächern,
den Otto Trsnjek haben sie umgebracht,
und wer weiß, was gerade mit dem Heinzi geschieht,
die Juden hocken auf den Gehsteigen und putzen das Pflaster,
als Nächstes sind die Ungarn dran oder die Burgenländer, oder die Böhmen oder was weiß ich,
wer sich das Hakenkreuz nicht ins Hirn brennen lässt, der ist dran,
wer seinen Arm nicht in den Himmel streckt, kann schon im Hotel Metropol buchen, ein Zimmer ohne Wiederkehr,
in Wien hat es sich ausgetanzt,
und im Prater geht die schwarze Pest um,
hast du es nicht gesehen, die sitzen schon draußen, saufen ihr Bier und warten nur darauf, den nächsten Trafikanten oder Juden oder Witzeerzähler ins Feuer zu schmeißen.
Anezka,
ich weiß nicht. ob du mich noch willst,
und ich weiß nicht, ob ich dich noch will,
das ist jetzt auch egal,
draußen sitzt die SS und klingelt mit den Sporen,
aber vielleicht können wir weggehen,
wir beide zusammen, mein ich,
irgendwohin wo es ruhig ist, nach Böhmen von mir aus, hinter den dunklen Hügel,
oder ins Salzkammergut,
die Mama hätt bestimmt nichts dagegen,
ich könnte eine Trafik aufmachen,
und wir könnten heiraten,
einfach so, weil dem lieben Gott ist das sowieso egal,
und du wärst dann eine …“
Genau an dieser Stelle gibt es die brutalstmögliche Wende, keine Antwort von Anezka, aber eine durch das Erscheinen eines SS-Mannes, mit dem sich Anezka angefreundet hat.
S. 207: In seiner Erregung wagt Franz das Äußerste, indem er dem SS-Mann gegenüber erklärt:
„Mein werter Herr, ich möchte Ihnen in aller Höflichkeit mitteilen,
dass es mir ehrlicherweise vollkommen egal ist, ob Sie eine schwarze Uniform anhaben oder eine blaue oder eine gelbe
und ob Sie Totenköpfe oder Kieselsteine oder hinterfotzige Gedanken um den Bauch hängen haben.
Allerdings überhaupt nicht egal ist mir dieses böhmische Mädchen hier.
Sie ist nämlich Künstlerin und hat ansonsten niemandem etwas getan.
Außer, dass sie mich geküsst, respektive erweckt hat und deswegen unter meinem ganz persönlichen Schutz steht.
Darum möchte ich Sie, mein werter Herr, hiermit inständig und aufrichtig ersuchen,
uns doch in Ruhe zu lassen.
Und wenn es ums Verrecken nicht anders gehen will und Sie Ihrem Sturmführer oder Bannführer oder Sturmbannführer oder sonst irgendeinem anderen Führer unbedingt von der Arbeit etwas mitbringen müssen,
dann nehmen S‘ halt in Gottes Namen mich mit! „
Franz hat Glück, dass dieser SS-Mann wohl nicht zu den ganz harten gehört und Anezka durch ihr anschmiegsames Verhalten für eine gewisse Entspannung sorgt, so dass Franz zumindest unbehelligt verschwinden kann.