Friedrich Schiller, „„Das verschleierte Bild zu Sais“ (Mat8602)

Worum es hier geht:

Im Folgenden stellen wir „Das verschleierte Bild zu Sais“ von Friedrich Schiller vor – eine Ballade, die deutlich macht, wie mit den tiefsten Geheimnissen des menschlichen Lebens aussieht. Vor allem zeigt sie, wie es einem ergeht, der an sie rankommen will.

Für die, die Goethes „Faust“ kennen: Es gibt natürlich viele Gemeinsamkeiten zwischen dem jungen Mann in dieser Ballade und dem Professor, der sich sogar auf einen Teufelspakt einlässt.

Gefunden haben wir die Ballade zum Beispiel hier:

Quelle: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, München 31962, S. 224-226,239-240.

Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005595541

Wir präsentieren den Originaltext in kursiver Schrift und unsere Anmerkungen jeweils unter der Strophe.

Vorstellung der einzelnen Strophen

Friedrich Schiller

Das verschleierte Bild zu Sais

  1. Ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst
  2. Nach Sais in Ägypten trieb, der Priester
  3. Geheime Weisheit zu erlernen, hatte
  4. Schon manchen Grad mit schnellem Geist durcheilt,
  5. Stets riß ihn seine Forschbegierde weiter,
  6. Und kaum besänftigte der Hierophant
  7. Den ungeduldig Strebenden. »Was hab ich,
  8. Wenn ich nicht alles habe?« sprach der Jüngling.
  9. »Gibts etwa hier ein Weniger und Mehr?
  10. Ist deine Wahrheit wie der Sinne Glück
  11. Nur eine Summe, die man größer, kleiner
  12. Besitzen kann und immer doch besitzt?
  13. Ist sie nicht eine einzge, ungeteilte?
  14. Nimm einen Ton aus einer Harmonie,
  15. Nimm eine Farbe aus dem Regenbogen,
  16. Und alles, was dir bleibt, ist nichts, solang
  17. Das schöne All der Töne fehlt und Farben.«
    • Die erste Strophe beschreibt den Wissensdurst eines jungen Mannes
    • Er reist nach Ägypten, weil er sich dort tiefste Wahrheiten erhofft.
    • Von einem Priester wird er zur Zurückhaltung ermahnt
    • .Der junge Mann aber vergleicht die Wahrheit mit einer Melodie oder einem Gemälde.
    • Dort gehe auch die Vollkommenheit verloren, wenn man auch nur einen kleinen Teil wegnimmt.
  1. Indem sie einst so sprachen, standen sie
  2. In einer einsamen Rotonde still,
  3. Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße
  4. Dem Jüngling in die Augen fiel. Verwundert
  5. Blickt er den Führer an und spricht: »Was ists,
  6. Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?«
  7. »Die Wahrheit«, ist die Antwort. – »Wie?« ruft jener,
  8. »Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese
  9. Gerade ist es, die man mir verhüllt?«
    • In der zweiten Strophe kommt der Jüngling dann zu einem Rundbau, in dem eine verhüllte Statue zu finden ist.
    • Der Jüngling fragt kritisch, wieso gerade hier etwas verhüllt werde, was doch zur Wahrheit gehöre.
  10. »Das mache mit der Gottheit aus«, versetzt
  11. Der Hierophant. »Kein Sterblicher, sagt sie,
  12. Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
  13. Und wer mit ungeweihter, schuldger Hand
  14. Den heiligen, verbotnen früher hebt,
  15. Der, spricht die Gottheit –« –
  16. »Nun?« – »Der sieht die Wahrheit.«
    • Hier wird deutlich gemacht, dass die dahinter stehende Gottheit darauf hingewiesen habe, dass nur sie den Schleiger heben dürfe
    • Verbunden ist das mit der Warnung, dass, wer von sich aus dieses Tuch abnimmt und damit schuldig wird, die Wahrheit zu sehen bekommt.
    • Als Leser merkt man hier, dass das das eigentliche Geheimnis ist.
    • Nämlich die Antwort auf die Frage, was passiert, wenn man gegen das Gebot der Gottheit verstößt.
  17. »Ein seltsamer Orakelspruch! Du selbst,
  18. Du hättest also niemals ihn gehoben?«
  19. »Ich? Wahrlich nicht! Und war auch nie dazu
  20. « – »Das fass ich nicht. Wenn von der Wahrheit
  21. Nur diese dünne Scheidewand mich trennte –«
  22. »Und ein Gesetz«, fällt ihm sein Führer ein.
  23. »Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst,
  24. Ist dieser dünne Flor – für deine Hand
  25. Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen.«
    • In dieser Strophe werden die Mentalitätsunterschiede zwischen dem jungen Mann und dem Priester deutlich.
    • Letzter macht zunächst einmal deutlich, dass er selbst nie in der Versuchung gewesen sei, dieses Tuch wegzunehmen.
    • Deutlich ist auch seine Warnung, dass dieses sich Tuch viel schwerer auswirke, als es zu sein scheint, denn es verbindet sich mit einem möglicherweise schlechten Gewissen.
  26. Der Jüngling ging gedankenvoll nach Hause.
  27. Ihm raubt des Wissens brennende Begier
  28. Den Schlaf, er wälzt sich glühend auf dem Lager
  29. Und rafft sich auf um Mitternacht. Zum Tempel
  30. Führt unfreiwillig ihn der scheue Tritt.
  31. Leicht ward es ihm, die Mauer zu ersteigen,
  32. Und mitten in das Innre der Rotonde
  33. Trägt ein beherzter Sprung den Wagenden.
    • Diese Strophe wird zunächst einmal deutlich, wie sehr dieser Jüngling mit seinen Wünschen kämpft
    • Er entschließt sich am Ende dazu, noch mitten in der Nacht den geheimnisvollen Ort aufzusuchen.
    • Deutlich wird auf jeden Fall, dass das ganze unfreiwillig geschieht, der junge Mann also von einem inneren Drang angetrieben wird.
    • Dementsprechend ist dann nur „der scheue Tritt“, zwar eine Vorwärtsbewegung, aber eine, die mit Unwohlsein, vielleicht sogar mit Angst verbunden ist.
  1. Hier steht er nun, und grauenvoll umfängt
  2. Den Einsamen die lebenlose Stille,
  3. Die nur der Tritte hohler Widerhall
  4. In den geheimen Grüften unterbricht.
  5. Von oben durch der Kuppel Öffnung wirft
  6. Der Mond den bleichen, silberblauen Schein,
  7. Und furchtbar wie ein gegenwärtger Gott
  8. Erglänzt durch des Gewölbes Finsternisse
  9. In ihrem langen Schleier die Gestalt.
    • Hier gibt es jetzt im Gedicht eine Verzögerung, die noch einmal die unheilvollen Umstände und die innere Spannung deutlich macht.
    • Deutlich sind die Anspielungen auf Leblosigkeit und Grab.
  1. Er tritt hinan mit ungewissem Schritt,
  2. Schon will die freche Hand das Heilige berühren,
  3. Da zuckt es heiß und kühl durch sein Gebein
  4. Und stößt ihn weg mit unsichtbarem Arme.
  5. Unglücklicher, was willst du tun? So ruft
  6. In seinem Innern eine treue Stimme.
  7. Versuchen den Allheiligen willst du?
  8. Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,
  9. Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
  10. Doch setzte nicht derselbe Mund hinzu:
  11. Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen?
  12. »Sei hinter ihm, was will! Ich heb ihn auf.«
  13. (Er rufts mit lauter Stimm.) »Ich will sie schauen.« Schauen!
  14. Gellt ihm ein langes Echo spottend nach.
    • Geschickt hat Schiller hier noch eine letzte Verzögerung eingebaut.
    • Die junge Mann wird jetzt direkt von der geheimnisvollen Macht angesprochen, die sich hinter dem Tuch verbirgt.
    • Interessant ist die Anspielung auf das griechische Orakel, dessen Sprüche ja auch zum Teil widersprüchlich waren, auf jeden Fall nicht leicht zu deuten.
    • Auch das wird hier im Gedicht umgesetzt,
      • indem zunächst noch einmal die deutliche Warnung der Statue erfolgt,
      • der junge Mann sich dann aber auch an einen Ausspruch von ihr erinnert, der in die Gegenrichtung weist, ihn also auf gefährliche Weise ermutigt, auf volles Risiko zu setzen.
  15. Er sprichts und hat den Schleier aufgedeckt.
  16. Nun, fragt ihr, und was zeigte sich ihm hier?
  17. Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich,
  18. So fanden ihn am andern Tag die Priester
  19. Am Fußgestell der Isis ausgestreckt.
  20. Was er allda gesehen und erfahren,
  21. Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig
  22. War seines Lebens Heiterkeit dahin,
  23. Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.
  24. »Weh dem«, dies war sein warnungsvolles Wort,
  25. Wenn ungestüme Frager in ihn drangen,
  26. »Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld,
  27. Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.«
    • Auch der Schluss ist raffiniert gestaltet.
    • Zunächst der knappe Hinweis auf das, was der junge Mann tut.
    • Dann wendet sich eine Art Erzähler an den Leser, nimmt seine Frage auf und macht deutlich, dass er keine Antwort weiß.
    • Es folgt der Bericht, was man am nächsten Morgen vorfindet, nämlich die Gestalt des jungen Mannes, schon von einer Vorstufe der Leberlosigkeit gezeichnet.
    • Zum Schluss dann der klare Hinweis auf einen frühen Tod als offensichtliche Strafe für das Vergehen.
    • Das führt zu einer Art Schlusswort des Übeltäters. In ihm macht er zumindest deutlich, dass die Wahrheit, die man in so einem Falle erfährt, unerfreulich ist.
Die Ballade zeigt:
  • einen Menschen, der wie Goethes Faust wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält.
  • Die Ballade macht aber auch deutlich, dass eine endgültige Wahrheit oder auch nur das Streben nach ihr, bei dem man Grenzen überschreitet, ein böses Ende nehmen kann.
Kreative Anregungen:
      • Jeder kann sich jetzt selbst überlegen, in welchen Situationen man nicht zu sehr in eine mögliche Wahrheit eindringen sollte. Sie könnte am Ende unglücklich machen.
      • Hier kann man sich verschiedene Sachen sich ausdenken, zum Beispiel die Eifersucht eines Ehemanns, der seine Frau einer Versuchung aussetzt, indem er einen jungen Mann auf sie ansetzt. Der verliebt sich dann aber wirklich – es kommt zum Ehebruch – und die Wahrheitssuche des Mannes hat erst die unangenehme Wahrheit erzeugt.
      • Dann könnte man die Entwicklung der Atombombe in den USA heranziehen, wo die Wissenschaftler bis zum Schluss nicht sicher wussten, ob die Detonation nicht die gesamte Atmosphäre in Brand setzen würde.
      • Man kann auch an das Verhältnis eines Arztes zu einem Patienten denken, dem er nicht seinen aktuellen Erkenntnisstand sagt, sondern lieber Hoffnung macht.

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