Sibylle Berg, „Nacht“ (Mat895)

Worum es hier geht:

  • Wir zeigen hier, wie bei einem schwierigen Text nach und nach Verständnis sich aufbaut.
  • Dabei gehen wir induktiv vor, d.h. Zeile für Zeile prüfen wir, in welche Richtung sich die Geschichte entwickelt.
  • Das Schöne daran: Immer mehr werden die Konturen sichtbar, aus denen sich schließlich einigermaßen klare Aussagen und auch so etwas wie Sinn herausarbeiten lässt.
  • Wir gehen so vor, dass wir immer erst in kursiver Schrift den Beginn des Abschnittes angeben, bevor die Anmerkungen kommen.

Der Titel und die erst mal unklare Ausgangssituation

„Nacht

  • Die Überschrift deutet nur eine Tageszeit an. Einen Sinn bekommt sie erst, wenn man die ganze Geschichte gelesen hat.

Sie waren mit Tausenden …

  • Der erste Satz macht eine Situation auf, in der mindestens zwei Menschen mit vielen anderen aus unterschiedlichen Türen kommend in eine Abend-Situation hineingeschoben werden.

Es war eng auf den Straßen …

  • Die nächsten Signale sind Enge und Müdigkeit, dazu der Himmel in rosa Farbe.

Die Menschen würden den Himmel ignorieren …

  • In diesem ersten längeren Abschnitt beschreibt der Erzähler das, was er im Hinblick bei den Menschen erwartet.
  • Die entscheidenden Signale sind das Ignorieren des Himmels, was immer das auch heißt. Es folgen das Essen von Gurken, ein kleiner Schmerz, während man das Verschwinden des Tageslichts betrachtet.
  • Man ist sehr gespannt, was diese seltsame Verbindung von Enge, Nicht-beachten“ des Himmels, Gurken und Schmerz zusammenhält.
  • Wenn man sich ein bisschen mit Aufgaben aus einer Schreibwerkstatt auskennt, könnte man hier vermuten: Die Verfasserin hat sich die Aufgabe gestellt, diese verschiedenen Dinge irgendwie in einen Erzählzusammenhang zu bringen.
  • Man kann nur gespannt sein, wie letztlich die Autorin diesen Anfangssignalen Bündelfngsfähigkeit geben wird.
  • Den meisten Schülis wird der Anfang der Kurzgeschichte wohl vorkommen wie ein Anschlag auf ihr Wohlbefinden. Sie können nur hoffen, dass so etwas nicht in einer Klassenarbeit oder in einer Klausur analysiert und interpretiert werden muss..
  • Oder aber man besorgt sich mit unserer Hilfe so viel Professionalität, dass man auch so etwas in aller Ruhe an seinen richtigen Platz verweisen kann.

Beginn der Klärung: Es geht um eine Art Ausbruch aus der Normalität

Eine Nacht wie geschaffen …

  • In diesem Abschnitt werden die Verhältnisse jetzt klarer. Die eben beschriebene Nacht wird aus irgendeinem Grunde für eine gute Basis gehalten, um alles hinter sich zu lassen
  • Offensichtlich wollen hier Menschen weg, wissen aber nicht, wie gleich angefügt wird, wofür sie es verlassen sollen. D.h. sie haben nichts Besseres im Sinn.
  • Es wird dann deutlich, was sie an diesen Verhältnissen stört, nämlich eine Einengung in zu viel Normalität, was ihnen keine Zeit lässt, um in Unbekanntes vorzustoßen und dabei auch mal grundsätzliche Fragen zu stellen .

Das Mädchen und der Junge gingen nicht nach Hause …

  • Es wird dann näher auf ein Mädchen und einen Jungen eingegangen, die jung sind und dementsprechend Mut haben, auch mal etwas Verrücktes zu tun
  • Es ist nicht ganz klar, in welchem Verhältnis die beiden jungen Menschen zueinander stehen, denn es wird darauf hingewiesen, dass diese Gedanken unabhängig voneinander gleichzeitig entstehen.

Sie gingen auf einen Berg …

  • Im weiteren Verlauf gehen beide, die sich, so erfährt man, gar nicht kennen, auf einen Berg.
  • Von dem wird behauptet, dass er die Stadt beschützt. Offensichtlich sind das typisch jugendliche oder vielleicht sogar aus der Kindheit stammende Fantasievorstellungen. Das sieht man daran, dass man den Alpengipfeln, die man von diesem Berg aus sehen kann, auch noch Namen geben kann, mit denen man sie angeblich herbeirufen kann.
  • Man merkt bereits, wie dieser Ausbruch aus der Normalität die Fantasie anregt. Was das bezwecken kann, bleibt vorerst offen.

Schwierige Annäherung

Die beiden kannten sich nicht ….

  • Dann wird die Spannung dadurch erhöht, dass die beiden Menschen, die auf so eigenartige Weise in ihren Schicksalen verknüpft sind, sich nicht nur nicht kennen, sondern auch niemanden kennenlernen wollen.
  • In der Realität werden sie immer näher zueinander geführt, sogar im Mürrisch-Sein, wenn man sich durch den anderen gestört fühlt.

So sind die Menschen …

  • An dieser Stelle mischt sich der Erzähler wieder kommentierend ein und verweist darauf, dass diese ablehnende Haltung etwas ganz Normales bei den Menschen ist.
  • Interessant ist, dass diese Normalität hier positiv aufgelöst wird, denn die beiden nähern sich nicht nur körperlich an, sondern sagen sogar ganz laut, was sie bewegt. Damit treten sie raus aus der Normalität, nicht zu viel von sich verraten zu wollen, sie öffnen sich in eine potenzielle Gemeinsamkeit hinein.

Die Gedanken ähnelten sich …

  • Es folgt ein Hinweis auf die Ähnlichkeit der Gedanken, wieder verbunden mit der wie eine Entschuldigung klingende Bemerkung, das sei eine Frage der Wahrscheinlichkeit bei so vielen Menschen

Gemeinsamkeit

Und die Worte wurden weich …

  • Es folgt eine Veränderung des Klangs der Worte. Ursprünglich klare Gedanken werden zu „süßem Brei“. Das wird verglichen mit dem Maximum an Annäherung, was zwischen zwei Menschen möglich ist, verliebt sein und gemeinsam schlafen gehen.

Sie hielten sich an der Hand…

  • Es kommt, wie es kommen kann. Die beiden behalten die Nähe bei, bleiben die ganze Nacht zusammen und freuen sich über die Eindrücke, die ihr Beisammensein, begleitet.

Dabei ist es so einfach …

  • Es folgt eine unterschiedliche Betrachtung der Der Junge freut sich eher über die Chance, die sie durch das Weggehen haben nutzen können.
  • Das Mädchen äußert sich skeptischer und denkt an die Normalität, dass nach dem Highlight eines schönen Erlebnisses wieder die Normalität stattfindet.

Und sie saßen immer noch …

  • Die beiden Einschätzungen verbinden sich dann. Beide möchten offensichtlich nicht in die Normalität zurückkehren.

Rätselhaftes Ende, das der Leser als Happy End verstehen kann

Ich wollte, es gäbe nur noch uns …

  • Das Ende ist rätselhaft. Präsentiert wird der gemeinsame Wunsch, dass es nur noch sie beide gibt.
  • Und in dem Moment verschwindet die Welt, und es bleibt nur das übrig, was den äußeren Rahmen ihrer Liebe bildet.
Zusammenfassung:

Insgesamt eine Geschichte, die wohl die Besonderheit eines zufälligen Zusammentreffen zweier Menschen darstellen soll, die aus Fluchtwunsch, verbunden mit Ziellosigkeit erlöst werden – und zwar durch Annäherung und Zuneigung – im wahrsten Sinne des Wortes.

Im Nachhinein klärt sich dann auch der das Dunkel über der Einstiegspassage der Kurzgeschichte.

Offensichtlich wird dort eine negative Normalität bei den meisten Menschen beschrieben. Die lässt sie durchaus Schmerz spüren, aber den Himmel können Sie nur ignorieren, weil ihnen nichts Besseres begegnet als eine Ansammlung von Gurken.

Anregung:

Ganz offensichtlich geht es in dieser Geschichte um eine möglichst ungewöhnliche Darstellung der Begegnung zweier junger Menschen, aus der im Idealfall eine Gemeinsamkeit werden kann, die sie immer dankbar auf diesen besonderen Nacht-Zufall zurückblicken lässt. Wir haben hier eine Situation wie in der Romantik: Der Tag mit seiner beengenden Helligkeit und Klarheit verschwindet und in der Dämmerung wird etwas möglich, das dann zu einer glücklichen gemeinsamen Nacht führen kann.

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