Systematische Erörterung der Frage der Bedeutung der Ringparabel (Mat8507)

Worum es hier geht:

Zur Vorbereitung auf Klausuren und Prüfungen wird gezeigt, wie man eine Frage zu einem literarischen Werk systematisch erörtern kann.

Es geht um die Frage, inwieweit die Ringparabel eine Basis sein kann für Verständigung und friedliches Miteinander der drei großen Religionen.

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Mat8507 Erörterung der Frage der Bedeutung der Ringparabel

  1. [Problemstellung]
    Die Ringparabel gilt gemeinhin als das Kernstück des Dramas „Nathan, der Weise“ und als Basis für ein tolerantes Miteinander verschiedener Religionen.
  2. Dabei wird zunächst einmal übersehen, dass dieses Märchen in erster Linie die Funktion hat, einer durch Sittah (II,3, ca. 1140) und den Geldbedarf des Sultans herbeigeführten gefährlichen Fragesituation auszuweichen. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, der Ringparabel eine grundsätzliche Bedeutung beizulegen, wenn ihre Entstehung und Ausrichtung situationsbedingt ist.
  3. Dazu kommt, dass bei sorgfältiger Betrachtung der Parabel und ihrer Behandlung in der Szene viele Probleme auftauchen.
  4. [Problem 1: Basis der Parabel Lüge und Betrug]
    Das erste Problem ist, dass die Bildgeschichte auf einer Lüge und letztlich einem Betrug beruht. Es entspricht kaum aufklärerischem Denken, wenn der Vater, statt mit seinen Söhnen offen darüber zu reden, seine Söhne in dem „Wahn“ lässt, jeder habe den Wunderring mit der entsprechenden Wirkung.
  5. [Aussage der Parabel als gemeinsamer Punkt zwischen Bildteil und Sachteil]
    Viel wichtiger aber ist der gemeinsame Punkt zwischen Bildteil und Sachteil, nämlich die Aussage, dass die Frage der Wahrheit der Religion nicht geklärt werden kann. Interessant ist dabei, dass die Echtheit der Ringe „unerweislich“ (ca. 1963) ist.
  6. Was die Übertragung auf die Religionen angeht, mindert Nathan das später zu einem „fast so unerweislich“ (ca. 1965) herab, ohne dass das näher erläutert wird. Eine Hypothese wäre, dass er sich hier eine Verteidigungslinie erhalten wollte gegenüber seinen jüdischen Glaubensgenossen, die sich als einem auserwählten Volk Gottes zugehörig fühlen. Das schließt aber grundsätzlich Gleichrangigkeit aller Menschen vor Gott aus.
  7. [Das Problem der Wirkung des Wunderrings]
    Wichtig ist, dass die Wunderwirkung des Rings sich zunächst darauf konzentriert, angenehm vor Gott zu werden, ohne dass das genauer ausgeführt wird.
  8. Erst danach ist die Rede davon, dass diese Wunderwirkung auch angenehm vor Menschen macht.
  9. Der Richterspruch dreht die Verhältnisse aber um. Ausführlich geht es jetzt darum, wie man angenehm bei anderen Menschen wird.
  10. Das kann als Trick verstanden werden, denn das ist natürlich einfacher zu erreichen. Es geht schließlich um so etwas wie moralisches, menschenfreundliches Verhalten, das ganz den Bedingungen der irdischen Existenz unterliegt.
  11. [Unvereinbarkeit von Ringparabel und christlichem Glaubensbekenntnis]
    Wie man vor Gott angenehm wird, wird nicht weiter ausgeführt. Genau hier aber beginnen die Probleme. Lessing wusste als evangelischer Christ sicherlich, dass Luther die einzige Möglichkeit, vor Gott gerecht zu erscheinen, im Glauben sah. Alles das, was im Richterspruch weit ausgebreitet wird, ist für Luther Folge des Glaubens, aber nicht entscheidend.
  12. Hier darf nicht vergessen werden, dass der Glaube der Christen und besonders der evangelischen Christen darauf beruht, dass Jesus als Sohn Gottes  die Sünden der Welt auf sich genommen hat, so dass allein durch den Glauben daran alle Menschen sündenfrei werden können. Auf dieses Herzstück des evangelischen Glaubens wird in der Parabel und der Diskussion darüber keine Rücksicht genommen.
  13. [Unvereinbarkeit der Ringparabel mit dem Islam]
    Ebenso ist nicht anzunehmen, dass auch nur ein einziger gläubiger Muslim von seiner Auffassung abweicht, dass man nur durch die Erfüllung zahlreicher Pflichten vor Allah wohlgefällig wird. Die christliche Dreieinigkeitslehre ist zudem mit dem muslimischen Glauben an den einen Gott unvereinbar. Jesus gilt im Islam nur als Prophet.
  14. [Das Problem von christliche, Missionsbefehl und Allahs Weltherrschaft]
    Erschwerend kommt hinzu, dass es im Neuen Testament es einen eindeutigen Missionsbefehl gibt, der in Konkurrenz stehen dürfte zu der muslimischen Vorstellung, dass letztlich die ganze Welt Allah untertänig gemacht werden muss. Juden und Christen haben nur ein Existenzrecht als zweitrangige Angehörige einer Buchreligion.
  15. [Problem der Realitätsferne des Stücks]
    Nathan wusste sicherlich auch, dass er als Jude einem auserwählten Volk angehörte, auch wenn von diesem Glauben in dem Theaterstück nicht viel zu sehen ist.
  16. Überhaupt scheint das ganze Drama nur scheinbar zu funktionieren, weil man Glaube und Praxis der realen Gläubigen weitgehend außer Acht lässt.
  17. Interessant ist, dass Lessing nur einen christlichen Patriarchen einbezieht und das auch noch in ziemlich negativer Weise. Es wäre interessant gewesen, muslimische und jüdische Gelehrte an dem Dialog zu beteiligen, wie der christliche Kaiser Friedrich, II es im 13. Jahrhundert in Sizilien versucht hat. Im Stück gibt es übrigens mehrere Stellen, an denen die Realität der Religionsverhältnisse deutlich wird: In II,1 äußert sich Sittah sehr kritisch über die Christen, in II,5 spricht der Tempelherr das Selbstverständnis der Juden als auserwähltes Volk Gottes an (ca. 1290). Ein wirklich gläubiger Muslim taucht gar nicht auf. Der würde die Scheinlösung der Ringparabel nie akzeptieren.
  18. Der muslimische Sultan scheint auch nicht besonders glaubensfest zu sein, sonst hätte er das „Märchen“ nicht so einfach auch im Hinblick auf seine Religion hingenommen. Möglicherweise kommt ihm die konfliktmindernde Scheinlösung, die Nathan ihm anbietet, politisch sehr entgegen.
  19. [Die familiäre Scheinlösung am Schluss]
    Stattdessen werden am Ende mit allerlei Tricks familiäre Verhältnisse demonstriert, bei denen Daja bezeichnenderweise ausgeschlossen bleibt, obwohl sie wahrscheinlich den Glauben der Christen während der Kreuzzüge am ehesten repräsentiert. Auf die kritischen Bemerkungen zu den Christen und ansatzweise auch zu den Juden ist unter Punkt 17 schon hingewiesen worden.
  20. [Fazit]
    Alles in allem muss festgehalten werden, dass die Ringparabel viel weniger zu einem friedlichen Miteinander der Religion beiträgt, als die eingeschobene Passage, die letztlich darauf hinausläuft, dass nicht eine Offenbarung oder der Glaube entscheidend ist für die Religionszugehörigkeit, sondern die Zufälle der Geburt, der familiären, sozialen und kulturellen Umgebung. Von daher kann man letztlich sagen, dass die Intention des Theaterstück von dem abweicht, was Lessing mit diesem Sachtext-Ersatz wohl erreichen wollte.

Weitere Infos, Tipps und Materialien

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