Vergleich Büchner, „Woyzeck“ mit „Der Hessische Landbote“ (Mat8479)

Worum es hier geht:

Man fragt sich häufig, was ist eigentlich der Unterschied zwischen Literatur und Sachtext? Ein interessantes Beispiel hat, wenn man eine Passage aus Büchners Flugschrift „Der hessische Landbote“ mit seinem Dramenfragment „Woyzeck“ vergleicht.

Wir präsentieren hier zunächst einen Auszug aus der Flugschrift und zerlegen die Ausführungen dabei in ihre Bestandteile.

Gefunden haben wir den Auszug hier
http://www.zeno.org/Literatur/M/B%C3%BCchner,+Georg/Schrift/Der+hessische+Landbote/Friede+den+H%C3%BCtten!+Krieg+den+Pal%C3%A4sten!

Analyse des Auszugs

Der Originaltext wird in kursiver Schrift präsentiert. Die Anmerkungen finden sich dann eingerückt nach dem jeweiligen Abschnitt.

Für die Pensionen 480.000 Gulden.

  • Der Abschnitt beginnt mit der Nennung einer großen Geldsumme, mit der man aber erst mal nicht viel anfangen kann. Das gilt aber nicht für die Zeitgenossen. Von daher können wir uns auf die Auswertung konzentrieren, die Büchner präsentiert.

Dafür werden die Beamten aufs Polster gelegt, wenn sie eine gewisse Zeit dem Staate treu gedient haben, d.h. wenn sie eifrige Handlanger bei der regelmäßig eingerichteten Schinderei gewesen, die man Ordnung und Gesetz heißt.

  • Hier wird deutlich, dass es in der Flugschrift nicht in erster Linie um die Summe geht, sondern um das Missverhältnis zwischen dem schönen Pensionsleben und dem, was diese Beamten vorher geleistet haben. Sie haben einem Staat gedient, der nicht etwas für die Menschen geleistet hat, sondern „Schinderei“ bedeutet hat, also Quälerei und Ausbeutung.

Für das Staatsministerium und den Staatsrat 174.600 Gulden. Die größten Schurken stehen wohl jetzt allerwärts in Deutschland den Fürsten am nächsten, wenigstens im Großherzogtum. Kommt ja ein ehrlicher Mann in einen Staatsrat, so wird er ausgestoßen. Könnte aber auch ein ehrlicher Mann jetzo Minister sein oder bleiben, so wäre er, wie die Sachen stehn in Deutschland, nur eine Drahtpuppe, an der die fürstliche Puppe zieht; und an dem fürstlichen Popanz zieht wieder ein Kammerdiener oder ein Kutscher oder seine Frau und ihr Günstling oder sein Halbbruder – oder alle zusammen.

  • Es folgt eine weitere Zahl, wobei man schon eher eine Vorstellung von den wenigen Nutznießern bekommt.
  • Anschließend wird die Kritik ausgedehnt auf Machtverhältnisse, in denen ein „ehrlicher Mann“ entweder „ausgestoßen“ wird oder sich anpassen muss.
  • Sehr wirkungsvoll ist das Bild des Puppenspiels, das den ganzen Staat bildet.

In Deutschland stehet er jetzt, wie der Prophet Micha schreibt, Kap. 7, V. 3 und 4: ›Die Gewaltigen raten nach ihrem Mutwillen, Schaden zu tun, und drehen es, wie sie es wollen. Der Beste unter ihnen ist wie ein Dorn, und der Redlichste wie eine Hecke.‹ Ihr müßt die Dörner und Hecken teuer bezahlen! denn ihr müßt ferner für das großherzogliche Haus und den Hofstaat 827.772 Gulden bezahlen.

  • Geschickt verweist Büchner hier auf entsprechend kritische Stellen aus der Bibel. Denn die war zu seiner Zeit noch eine absolute Quelle von Autorität, auch wenn nicht alle Pfarrer diese Kritik aufgenommen haben.

Die Anstalten, die Leute, von denen ich bis jetzt gesprochen, sind nur Werkzeuge, sind nur Diener. Sie tun nichts in ihrem Namen, unter der Ernennung zu ihrem Amt steht ein L., das bedeutet Ludwig von Gottes Gnaden, und sie sprechen mit Ehrfurcht: ›Im Namen des Großherzogs.‹ Dies ist ihr Feldgeschrei, wenn sie euer Gerät versteigern, euer Vieh wegtreiben, euch in den Kerker werfen. Im Namen des Großherzogs sagen sie, und der Mensch, den sie so nennen, heißt: unverletzlich, heilig, souverän, königliche Hoheit.

  • Noch einmal wird das Bild der „Werkzeuge“ genutzt, um deutlich zu machen, dass hier keine eigenständigen Menschen im Dienste des Volkes agieren.
  • Dann wird der religiöse Anspruch der Fürsten kritisiert, die sich „von Gottes Gnaden“ im Amt sehen, ohne irgendetwas von göttlicher Gnade an die Menschen in ihrem Land weiterzugeben.

Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel. Es ißt, wenn es hungert, und schläft, wenn sein Auge dunkel wird. Sehet, es kroch so nackt und weich in die Welt wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen wie ihr, und doch hat es seinen Fuß auf eurem Nacken, hat 700.000 Menschen an seinem Pflug, hat Minister, die verantwortlich sind für das, was es tut, hat Gewalt über euer Eigentum durch die Steuern, die es ausschreibt, über euer Leben durch die Gesetze, die es macht, es hat adliche Herrn und Damen um sich, die man Hofstaat heißt, und seine göttliche Gewalt vererbt sich auf seine Kinder mit Weibern, welche aus ebenso übermenschlichen Geschlechtern sind.

  • Am Ende dieses Abschnitts wird dem Fürsten sein Mantel ausgezogen. Es soll deutlich werden, dass er genauso ein Mensch ist wie seine Untertanen.
  • Es folgt der Hinweis auf das unmenschliche Verhalten des Fürsten in Form des Bildes vom Fuß auf dem Nacken.
  • Am Ende dann die Kritik an der potenziellen Unendlichkeit dieser Fortpflanzung von Gewalt.

Vergleich mit dem Theaterfragment:

  1. In dem Auszug aus der Flugschrift geht es um die Unmenschlichkeit in den Fürstenstaaten der Zeit Büchners.
  2. Dort geht es vor allem um Unterdrückung und Ausbeutung.
  3. Gezeigt wird das vor allem am Missverhältnis zwischen dem äußerlich guten Leben der Leute, die den Staat repräsentieren und ihn am Laufen halten, und dem, was sie an Unmenschlichkeit anrichten.
  4. Besonders kritisiert wird die enge Beziehung von Macht und Religion.
  5. Die Flugschrift geht auf die gesamte gesellschaftliche Situation ein – das Dramenfragment beschäftigt sich nur mit dem Schicksal von Woyzeck und seiner Familie.
  6. Auch er ist Opfer, wird ausgebeutet. Ja, er dient sogar dem Staat, ohne von ihm groß zu profitieren. In einem Krieg könnte das sogar den Verlust des Lebens oder ein Weiterleben als Mensch mit nur noch einem Bein oder sogar mit Verlust des Augenlichtes bedeuten.
  7. Allerdings hat Büchners entweder krankhaftes oder hochkriminelles Verhalten direkt nichts zu tun mit den Steuerzahlern im Fürstentum. Wir sehen einen Menschen, der herzlos und auf äußerst brutale Art und Weise seine Partnerin und Mutter des Kindes abschlachtet äußerst kritisch. Wir haben auch kein Verständnis für die Kritik an der Verurteilung des realen Mörders, der für den fiktiven Woyzeck die Vorlage abgab. Erstens geht Büchner in keiner Weise auf die reale juristische Beurteilung des Vorlage-Falls ein – und wir können schon gar nicht beurteilen, ob der fiktive Woyzeck geistig krank ist. Dagegen spricht, wie sehr er sich dem Hauptmann zum Beispiel geistig überlegen zeigt. Und die präzise Vorbereitung des Mords entspricht genau dessen juristischer Definition.
  8. Also: Kein Mitleid mit Woyzeck, eher mit Marie, die versucht, sich auf durchaus verständliche Art und Weise sich und ihr Kind aus dem Elend zu befreien.
  9. Wohl aber kann man Mitleid haben mit allen Menschen, die in einfachsten Verhältnissen zur Zeit Büchners lebten und ausgebeutet wurden. Auf deren Schicksal hätte der Dichter sich besser konzentriert, wie es später Gerhart Hauptmann zum Beispiel in seinem Theaterstück „Die Weber“ gemacht hat.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Weber
  10. Allerdings sollte man auch den Hauptmann und den Doktor beim Vergleich im Auge behalten. Besonders bei dem ersteren sieht man eine gewisse „Polster“-Situation. Ihm scheint es gut zu gehen – und so kann er sich ganz hypochondrischen Gefühlen hingeben, die eher beim Nichtstun entstehen als beim Kampf um den Lebensunterhalten.
  11. In diesem steht allerdings Woyzeck, das wollen wir ihm zugutehalten. Wäre er nur dabei geblieben und hätte nicht zum Messer gegriffen. Den Doktor sollte man nicht zu sehr kritisieren – immerhin bietet er Woyzeck einen Job. Gäbe es einen besseren Staat im Stück, der seine Soldaten anständig bezahlt, müsste Woyzeck nicht diese Erbsenkur machen. Also ist eher ein Hintergrundproblem eine Rolle als der Job beim Doktor. Dass der es sich leisten kann, unsinnige bis grausame (Katze) Vorlesungen zu halten, ist wieder ein Problem von Staat und Gesellschaft zu Büchners Zeit. Man könnte hier eher die Leute kritisieren, die noch Christentum predigen, aber anscheinend vielen Menschen keinen moralischen Halt mehr geben.
  12. Letztlich bestätigt sich auch bei diesem Vergleich, dass Büchners Stück eher eine Satire ist, deren Aussagen man sehr unterschiedlich einschätzen kann. Die Flugschrift erscheint deutlich besser geeignet, um das Volk aufzurütteln, also Bewusstsein zu schaffen. Das Dramenfragment hat hier vergleichsweise wenig zu bieten.

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