Vergleich Expressionismus und Naturalismus – Nicolai – Zech
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Emil Nicolai
Straßenbild
01: Ein Menschenhauf – ein Schutzmann – und ein Karr’n
02: und auf dem Karren ein betrunk’nes Weib.
03: Notdürft’ge Kleidung deckt den magern Leib –
04: die Nase spitz, wie eines Giebels Sparren.
05: Die Menge gafft, – und tut der Dinge harren,
06: die sich entwickeln ihr zum Zeitvertreib. –
07: Und mancher Schimpf trifft das betrunk’ne Weib,
08: des Augen glasig in die Leere starren.
09: Sie griff zur Flasche in des Lebens Not,
10: als ihr das Herz umkrallt der Ohnmacht Gram;
11: die Kinder weinten:“Mutter! – Hunger! – Brot!“
12: Nun deckt die blassen Wangen brennend Rot
13: wie in des Unglücks unbewusster Scham –
14: Der Karren rollt: ein Opfer – lebend tot.
Paul Zech
Zwei Wupperstädte
Die zweite
01: Schwarze Stadt an schwarzem Gewässer steilaufgebaut –
02: Grünbeliderte Fenster funkeln,
03: aus dem gespenstischen Schieferdachdunkeln
04: schnelln Schornsteine von Dampf und Dunst umbraut.
05: Hellwild rattert und knattert die Pendelbahn
06: über Brücken und hagre Alleen.
07: Fabrik dort unten, wo Spindeln sich kreischend drehen,
08: ist grau wie ein müder vermorschter Kahn.
09: Schweiß kittet die Fugen fest,
10: Schweiß aus vielerlei Blutsaft gegoren
11: Frommsein enteitert dem greisen Gebrest.
12: Mancher hat hier sein Herz verludert, verloren;
13: Kinder gezeugt mit schwachen Fraun…
14: Doch die Kirchen und Krämer stehn hart wie aus Erz gehaun.
- Beide Gedichte beschäftigen sich mit sozialer Not und ihren Folgen.
- Links geht es aber mehr um ein Einzelschicksal, wobei relativ genau – eben „naturalistisch“ beschrieben wird. Allerdings wird dabei nicht in besonders eklige Details hineingegangen, die Darstellung bleibt relativ allgemein. Man Vergleiche das mal mit einigen Gedichten von Gottfried Benn.
- Auch nicht ganz naturalistisch ist die Interpretation des Verhaltens der Umstehenden. Ihnen wird „Zeitvertreib“ als Motiv unterstellt, d.h. hier beschränkt sich das Lyrische Ich nicht auf das Fotografische.
- Vor allem wird dann die Vorgeschichte in einer Weise dargestellt, die eindeutig einen interpretatorischen Zusammenhang erkennen lässt.
- Dabei bekommt dann die Farbe der Wangen eine symbolische Bedeutung – auch nicht typisch für den Naturalismus.
- Das gleiche gilt für den Schluss-Vers.
- Wir halten also fest: Das Gedicht von Nicolai kann insofern dem Naturalismus zugerechnet werden, weil es in der Wirklichkeit verhaftet bleibt, diese allerdings durchaus ansatzweise interpretiert.
- Das Gedicht von Paul Zech geht sehr viel weiter:
Zwar gibt es auch hier am Anfang beschreibende bzw. schildernde Elemente. - Aber die dritte Strophe zeigt dann schon stark überhöhte Bilder, wie sie für den Expressionismus typisch sind.
- Die letzte Strophe kehrt dann allerdings wieder stark in die Wirklichkeit zurück. Was in den Zeilen 12 und 13 angedeutet wird, geht in die Richtung dessen, was auch bei Nicolai angesprochen wird. Nur dass hier „Herz verludert“ sehr viel umfassender ist als die sehr konkrete Beschreibung der Not und ihrer Folgen im Gedicht links.
- Insgesamt stellen wir fest, dass es bei der Schilderung sozialer Probleme eher Überschneidungen gibt zwischen Texten aus der Zeit des Naturalismus und des Expressionismus. Das liegt aber auch in der Natur der Sache.
- Es wird aber auch deutlich, dass die expressionistischen Dichter einen Schritt weiter gehen, am stärksten wird das deutlich in Zeile 11 des Gedichtes von Zech.
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- Themenseite Gedichtvergleich
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