Vorstellung vom Autor in Goethes „Wilhelm Meister“ (Mat8427)

Worum es hier geht:

In Goethes „Wilhelm Meister“ gibt es ein interessantes Statement zur Frage der Stellung des Autors oder spezieller des Schriftstellers in der Gesellschaft_
Lehrjahre, 2. Kapitel:
Zu finden ist die Passage z.B. hier.

Die Originalpassagen präsentieren wir in Kursivschrift, darunter unsere Kommentare eingerückt.

Probleme bei der „Konkretheitsprüfung“?

Unsere Hypothese:  Dies ist wieder mal ein Beispiel für relativ theoretische Überlegungen, die der Konkretisierungsprüfung nicht immer standhalten.

Wir haben das übrigens schon mal erlebt, als wir Immanuel Kants Antwort auf die Frage: „Was ist Aufklärung“ – mal aus heutiger Sicht im Hinblick auf Konkretheit und Anschaulichkeit geprüft haben.

Wer sich dafür interessiert – wir verlinken am Ende die entsprechenden Seiten.

Hierzu noch ein kleiner Hinweis: Bei Gesetzen ist es üblich, dass die relativ allgemein formuliert werden – dann gibt es Verwaltungsvorschriften, die das konkretisieren. Manche Fälle werden erst in Gerichtsverfahren geregelt.

Prüfung des Textes: Realitätscheck

  1. »Wie sehr irrst du, lieber Freund, wenn du glaubst, daß ein Werk, dessen erste Vorstellung die ganze Seele füllen muß, in unterbrochenen, zusammengegeizten Stunden könne hervorgebracht werden. 
    • Ablehnung der Vorstellung, dass beim Dichten ein Werk in ununterbrochener Tätigkeit zusammengeschriebenwerden könne.
    • Als Leser ist man gespannt auf den Grund.
      • Einer könnte darin liegen, dass man Zeit zum Nachdenken braucht,
      • vielleicht auch einfach eine Pause, bevor man wieder so Höchstleistungen gelangen kann.
  2. Nein, der Dichter muß ganz sich, ganz in seinen geliebten Gegenständen leben. Er, der vom Himmel innerlich auf das köstlichste begabt ist, der einen sich immer selbst vermehrenden Schatz im Busen bewahrt, er muß auch von außen ungestört mit seinen Schätzen in der stillen Glückseligkeit leben, die ein Reicher vergebens mit aufgehäuften Gütern um sich hervorzubringen sucht. 
    • Der Grund liegt wohl in der Notwendigkeit absoluter Konzentration.
    • Seltsamer Seitenhieb gegenüber reichen Leuten, denen unterstellt wird, sie könnten ihren Reichtum nicht genießen. Man denke etwa an einen Kunstsammler.
  3. Sieh die Menschen an, wie sie nach Glück und Vergnügen rennen! Ihre Wünsche, ihre Mühe, ihr Geld jagen rastlos, und wonach? Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuß der Welt, nach dem Mitgefühl seiner selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen.
    • Beschreibung der Menschen, die keine Dichter sind. Angeblich jagen sie pausenlos nach etwas, was der Dichter geschenkt bekommen hat.
    • Die Frage ist, ob dieser Vergleich nicht stark hinkt. Jemand, der zum Beispiel nach Erfüllung in der Liebe sucht, wird das nicht dort finden, wo ein Dichter das findet, was ihn auszeichnet.
  4. Was beunruhiget die Menschen, als daß sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden können, daß der Genuß sich ihnen unter den Händen wegstiehlt, daß das Gewünschte zu spät kommt und daß alles Erreichte und Erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde uns in der Ferne ahnen läßt.
    • Hier werden einige angebliche Defizite aufgezählt, bei denen, die keine Dichter sind.
    • Das wäre im Einzelnen zu prüfen. Dies ist wieder mal ein typisches Beispiel für unzureichende Konkretisierung oder Veranschaulichung.
    • Man könnte einen der Fälle einfach mal in einem ausgedachten Dialog durchspielen. Dann würden sich wohl die Grenzen der These zeigen.
  5. Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter über dieses alles hinübergesetzt. Er sieht das Gewirre der Leidenschaften, Familien und Reiche sich zwecklos bewegen, er sieht die unauflöslichen Rätsel der Mißverständnisse, denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt, unsäglich verderbliche Verwirrungen verursachen. Er fühlt das Traurige und das Freudige jedes Menschenschicksals mit. 
    • Hier kommt jetzt der Vergleich des Dichters mit einem Gott.
    • Das dürfte in dieser Allgemeingültigkeit sehr fragwürdig sein.
      • Denn letztlich geht es ja um eine Art Schaffen aus dem Nichts.
      • Aber deshalb den Dichtern zu gut zu halten, dass sie die Situation wie ein Gott übersehen, überzeugt nicht.
      • Man kann das sehr schön festmachen am Beispiel von Goethes Werther. Der Verfasser war damals völlig Opfer seiner Triebe, der Biologie, während andere Menschen die Situation sicher nüchterner betrachten konnten – von (einem) Gott ganz zu schweigen.
  6. Wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie über großen Verlust seine Tage hinschleicht oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegengeht, so schreitet die empfängliche, leichtbewegliche Seele des Dichters wie die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag fort, und mit leisen Übergängen stimmt seine Harfe zu Freude und Leid. Eingeboren auf dem Grund seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wachend träumen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geängstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft.
    • Auch hier hakt es an allen Ecken und Enden. Zum Beispiel kann man den Lauf der Sonne in keiner Weise vergleichen mit der leichten Beweglichkeit eines Herzens.
    • Auch die Behauptung, dass Dichter in besonderer Weise mit Weisheit gesegnet sind, hält der Wirklichkeit wohl kaum stand.
    • Uns fällt dazu immer die Äußerung eines Literaturprofessors ein, der in keiner Weise die hohe Qualität schriftstellerischer Glanzleistungen infrage stellte.
    • Er wollte aber niemand von denen zum Freund haben und hatte dafür sicher seine Gründe 😉
    • Auch spricht gegen die These hier im Text, dass Kunst, je mehr sie sich dem Absoluten nähert, desto mehr dem Wahnsinn verfällt.
    • Man denke etwa an Vincent van Gogh oder auch den späten Hölderlin. Das sind Leute, die dem auch zum Opfer gefallen sind, was ihre Kunst ausmachte.
    • Man merkt also immer deutlicher, dass diese Vorstellung von schriftstellerischer Kunst nur zum Teil ihr Wesen betrifft und schon gar nichts zu tun hat mit mehr Glück, als andere Menschen es empfinden.
    • Und auch von mehr Weisheit kann nicht ohne weiteres die Rede sein.
    • Problematisch ist auch die Vorstellung vom Traum des Lebens, das müsste auch konkretisiert werden. Dann würde sich wahrscheinlich herausstellen, dass Fantasieprodukte ihren Wert haben können, aber sie haben auch ihre Grenzen und geraten möglicherweise in Probleme.
    • Man denke etwa an Drogen, die ja auch bestimmte Wahrnehmungs-Möglichkeiten verstärken, aber in der Regel nicht für die Grundlage menschlichen Glücks gehalten werden.
  7. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen.
    • Hier dann eine zusammenfassende Selbstbeschreibung, die persönlichen Wünschen und Gefühlen durchaus entsprechen kann.
    • Insgesamt zeigt sich aber hier eine Überheblichkeit, die zumindest diesen Teil des Dichter-Daseins sehr fragwürdig macht.
  8. Wie! willst du, daß er zu einem kümmerlichen Gewerbe heruntersteige? Er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich auf eine Fährte gewöhnen oder vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein Bellen sichern?«
    • Jetzt wird es noch heftiger: dieser Verteidiger einer bestimmten Art von Dichtkunst besteht nämlich darauf, dass er ganz seinen eigenen Vorstellungen nur zu dienen braucht.
    • So etwas wie soziale Verantwortung ist in keiner Weise zu spüren.
    • Die ist schon eher bei der Ausübung von den Tätigkeiten zu finden, auf die herablassend hinuntergeblickt wird.
    • Man muss natürlich schauen, wie es mit dem Kontext dieser Textstelle bestellt ist. Was die Figur hier sagt, muss man ja nicht unbedingt Goethe zuordnen können.
    • Unabhängig davon kann man natürlich die Position kritisch betrachten, die in einem literarischen Werk von irgendjemandem vertreten wird.
  9. Werner hatte, wie man sich denken kann, mit Verwunderung zugehört. »Wenn nur auch die Menschen«, fiel er ihm ein, »wie die Vögel gemacht wären und, ohne daß sie spinnen und weben, holdselige Tage in beständigem Genuß zubringen könnten! Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne Gegenden begäben, dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!«
    • Hier kommen jetzt genau die Einwände, die eben schon voran gedacht worden sind.
    • Allerdings wird es nicht als Kritik geäußert, sondern als Wunsch, diese Dichter-Existenz möglichst auf alle Menschen auszudehnen.
    • Dem widerspricht aber natürlich die Notwendigkeit, dass es ganz viele notwendigen Tätigkeiten gibt, die weniger mit Lust als mit Dienst am Ganzen und an den Menschen verbunden sind.
  10. »So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo das Ehrwürdige mehr erkannt ward«, rief Wilhelm aus, »und so sollten sie immer leben. Genugsam in ihrem Innersten ausgestattet, bedurften sie wenig von außen; die Gabe, schöne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in süßen, sich an jeden Gegenstand anschmiegenden Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt und war für den Begabten ein reichliches Erbteil. 
    • Hier argumentiert Wilhelm jetzt in Traditionslinien, die wenig mit dem einfachen Volk zu tun haben, eher auf den Level der Aristokraten gehören und zudem möglicherweise seit der französischen Revolution stark überlebt sind.
    • Zumindest ein kleiner sozialer Aspekt wird angedeutet, nämlich die Bezauberung angeblich der ganzen Welt.
    • In Wirklichkeit dürfte es sich hier wohl um einen Austausch zwischen führenden Schichten handeln, die selbst um ihr Suskommen sich keine Mühe geben mussten.
  11. An der Könige Höfen, an den Tischen der Reichen, vor den Türen der Verliebten horchte man auf sie, indem sich das Ohr und die Seele für alles andere verschloß, wie man sich seligpreist und entzückt stillesteht, wenn aus den Gebüschen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig rührend hervordringt!
    • Hier wird der eben angedeutete Nutzen der Kunst erfreulicherweise etwas konkretisiert.
    • Allerdings sind die sozialen Gruppen, die angedeutet werden, wieder wohl in einem höheren Bereich anzusiedeln
    • Auch die Art und Weise, wie die Kunst angeeignet wurde, spricht eher für Müßiggang als für Integration ins Arbeitsleben.
  12. Sie fanden eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender Stand erhöhte sie nur desto mehr. Der Held lauschte ihren Gesängen, und der Überwinder der Welt huldigte einem Dichter, weil er fühlte, daß ohne diesen sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde; 
    • Hier geht Wilhelm noch einmal auf die Frage des Nutzens ein.
    • Die ersten beiden bewegen sich wieder in sehr hohes Sphären und dürften für die einfache Bevölkerung kaum eine Rolle spielen.
  13. der Liebende wünschte sein Verlangen und seinen Genuß so tausendfach und so harmonisch zu fühlen, als ihn die beseelte Lippe zu schildern verstand; 
    • Dann geht es wieder um den Liebenden, was zunächst natürlich sozial nicht klassifiziert ist.
    • Allerdings merkt man, dass es Wilhelm hier wohl nicht um die einfachen Menschen geht, sonst würde er nicht gleich wieder zu den Reichen übergehen.
    • Er meint anscheinend, Liebesverhältnisse, wie er sie sich am Hof oder sonst in adliger Umgebung vorstellt.
  14. und selbst der Reiche konnte seine Besitztümer, seine Abgötter, nicht mit eigenen Augen so kostbar sehen, als sie ihm vom Glanz des allen Wert fühlenden und erhöhenden Geistes beleuchtet erschienen. 
    • Diese Passage ist auch wieder fragwürdig, denn sie unterstellt, dass Reiche nicht eine ganz eigene Beziehung zu ihrem Reichtum haben, wozu sie dann den Dichter kaum brauchen.
    • Sie brauchen eher Bildhauer und Architekten, um ihre Gärten zu schmücken oder ihre Anwesen zu gestalten.
    • Was Wilhelm hier auch völlig übersieht, ist, dass zu gesellschaftlichen Unterschieden immer auch die Gefahr der Arroganz auf der einen Seite und Unterlegenheitsgefühl auf der anderen Seite gehört. Auch das ist keine gute Voraussetzung für eine schöne menschliche Beziehung.
  15. Ja, wer hat, wenn du willst, Götter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?«
    • Das ganze schließt wieder ab mit der in dieser Totalität präsentierten Nischenvorstellung, dass die Dichter tatsächlich in der Lage wären, die Menschen zu den Göttern zu erheben.
    • Man merkt hier deutlich, dass es sich hier um eine Kampfposition handelt, die zunächst mal extreme Thesen aufstellt
    • Wenn es um Wahrheitsfindung geht, wäre es viel sinnvoller und überzeugender, wenn man sich auf den Bereich konzentrieren würde, in dem tatsächlich der Schöpfer-Gott und der dichtende Menschen-Gott zumindest ein bisschen was gemeinsam haben.
    • Es wäre zu prüfen, ob die normale „alter-deus“- Vorstellung des Sturm und Drang und auch der Klassik, überhaupt des ganzen Idealismus mit dem übereinstimmt, was hier extrem formuliert wird.

Was ist und bleibt das Besondere an Schriftstellern?

Insgesamt überzeugt der Gott-Ähnlichkeitsanspruch uns nicht, wie er hier formuliert worden ist.

Das ändert aber nichts daran, dass man über einige Besonderheiten der Schriftsteller-Existenz nachdenken kann, die mit ihrer Tätigkeit zu tun haben.

Hier nur einige Ansätze:

  1. Schriftsteller reizen die Möglichkeiten der Sprache voll aus – und weiten ihre Grenzen. Man denke etwa an Neologismen.
  2. Schriftsteller erschaffen mit Hilfe ihrer Fantasie Welten, die es in der Realität so nicht gibt.

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