Wenn die Vergangenheit manipuliert wird – Auswertung des Kapitels 4 von George Orwells Roman „1984“ (Mat8342-omv)

Auswertung: Orwell, „1984“ Kapitel 4

Genutzt haben wir für diese Auswertung die folgende deutsche Übersetzung des Romans – in der Kindle-Ausgabe, die folgende bibliografische Angabe präsentiert:

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Allgemeine Bedeutung des Kapitels

Das vierte Kapitel von George Orwells Roman „1984“, wie es in den vorliegenden Auszügen dargestellt wird, ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Funktionsweise des totalitären Regimes in Ozeanien und insbesondere der Rolle des Wahrheitsministeriums. Es gewährt einen detaillierten Einblick in die systematische Fälschung der Vergangenheit, die eine der Säulen der Macht der Partei darstellt.

Hinweis: Hier wird an einer Stelle ein wichtiges Detail des Lebens in einer Diktatur beschrieben, bei der die Wahrnehmung der Wirklichkeit und besonders die Erinnerung an das, was mal Realität war, im Mittelpunkt steht.

Das erweitert den Roman „Die Farm der Tiere“. Dort geht es in einer Fabel-Geschichte um die Mechanismen der Veränderung des aktuellen Bewusstseins.
Hier sind wir anhand eines Youtube-Videos genauer darauf eingegangen:
https://schnell-durchblicken.de/sprache-zwischen-wahrheit-und-wirkung-auswertung-des-romans-farm-der-tiere-von-george-orwell
Das Folgende macht deutlich, dass auch ganz gezielt die Vergangenheit bzw. das Bewusstsein von ihr manipuliert werden kann.

Ein typischer Arbeitstag im „Wahrheitsministerium“

Ein wesentlicher Aspekt des Kapitels ist die Beschreibung von Winstons Arbeitsalltag in der Registratur des Wahrheitsministeriums. Zu Beginn des Kapitels wird geschildert, wie Winston seine Arbeit aufnimmt, die darin besteht, fehlerhafte oder politisch unliebsam gewordene Nachrichten und Aufzeichnungen zu „richtigzustellen“. Dies wird anhand konkreter Beispiele verdeutlicht:

1. Beispiel für die Manipulation der Vergangenheit: Rede

Die Rede des Großen Bruders vom 16. März 1984, in der eine falsche Voraussage über die Kriegsschauplätze in Südindien und Nordafrika getroffen wurde, muss korrigiert werden, um sie mit den tatsächlichen Ereignissen in Einklang zu bringen. „So ging z. B. aus der Times vom 17. März hervor, daß der Große Bruder in seiner Rede am Tage vorher prophezeit hatte, die Südindien-Front würde ruhig bleiben, aber in Nordafrika würde bald eine eurasische Offensive losbrechen. In Wirklichkeit jedoch hatte das eurasische Oberkommando seine Offensive in Südindien angesetzt, und in Afrika hatte Ruhe geherrscht. Deshalb mußte eine neue Fassung von der Rede des Großen Bruders geschrieben werden, die eben das voraussagte, was wirklich eingetreten war.“

2. Beispiel für die Manipulation der Vergangenheit: Prognose

Auch fehlerhafte Produktionsvoraussagen des Ministeriums für Überfluß in der „Times vom 19. Dezember 83“ müssen angepasst werden, um den Anschein zu erwecken, die Pläne seien erfüllt oder übererfüllt worden. „Winstons Aufgabe bestand nun darin, die ursprünglichen Zahlen richtigzustellen, indem er sie mit den späteren in Übereinstimmung brachte.“ Dabei geht es nicht um die Annäherung an die Wahrheit, sondern um die Erzeugung eines erwünschten Narrativs. „In Wirklichkeit, so dachte er, während er die Ziffern der Angaben des Ministeriums für Überfluß neu einsetzte, war es auch nicht einmal eine Fälschung. Es war lediglich die Einsetzung eines Unsinns an Stelle eines anderen.“

3. Beispiel für die Manipulation der Vergangenheit: Ankündigung

Ein weiteres Beispiel ist die Korrektur einer Ankündigung bezüglich der Schokoladeration, bei der ein früheres Versprechen einer Nicht-Kürzung durch eine Andeutung einer bevorstehenden Kürzung ersetzt werden muss.

Was das Kapitel zeigt:

Das Kapitel illustriert detailliert den Prozess der Dokumentenvernichtung und -neufassung. Originale Zeitungsartikel und andere Dokumente werden nach der Korrektur in „Gedächtnis-Löcher“ geworfen, von wo sie zu Verbrennungsöfen gelangen. „Wußte man, daß ein Dokument zur Vernichtung bestimmt war, oder sah man auch nur ein Stück Abfallpapier herumliegen, war es eine automatische Handlung, das Schutzgitter des nächstbesten Gedächtnis-Loches hochzuklappen und das Papier hineinzuwerfen, woraufhin es von einem warmen Luftstrom zu den riesigen Verbrennungsöfen fort-gewirbelt wurde…“

Die Methode der Manipulation

Die korrigierten Versionen werden neu gedruckt und archiviert, wodurch die ursprüngliche, „falsche“ Version vollständig aus der Existenz getilgt wird. „Wenn alle Korrekturen, die in einer Nummer der Times nötig geworden waren, gesammelt und kritisch miteinander verglichen worden waren, wurde diese Nummer neu gedruckt, die ursprüngliche vernichtet und an ihrer Stelle die richtiggestellte Ausgabe ins Archiv eingereiht.“

Ausmaß der Manipulation

Diese fortlaufende „Umwandlungsprozeß“ erstreckt sich auf alle Arten von politisch oder ideologisch relevanten Medien. Dadurch wird sichergestellt, dass jede Aussage der Partei immer als richtig und unumstößlich dargestellt werden kann. „Auf diese Weise konnte für jede von der Partei gemachte Vorhersage der dokumentarische Beweis erbracht werden, daß sie richtig gewesen war; auch wurde nie geduldet, daß man eine Verlautbarung oder Meinungsäußerung aufhob, die den augenblicklichen Gegebenheiten widersprach.“

Beispiel für die historische Ausschaltung von Personen

Ein besonders aufschlussreicher Teil des Kapitels ist die Umgestaltung eines Tagesbefehls des Großen Bruders, in dem ein in Ungnade gefallener Genosse Withers erwähnt wird. Da Withers zur „Unperson“ erklärt wurde und somit als niemals existent behandelt wird, muss Winston den gesamten Bericht neu verfassen und dabei Withers vollständig tilgen. Stattdessen erfindet Winston eine fiktive Person, den „Genossen Ogilvy“, dessen Leben und heroischer Tod als vorbildhaft dargestellt werden. „Genosse Ogilvy, vor einer Stunde noch im Schoße des Nicht-Gedachten, war jetzt eine Tatsache.“ Dies verdeutlicht die absolute Macht der Partei, die Vergangenheit nicht nur zu verändern, sondern auch Realitäten nach Belieben zu erschaffen und zu vernichten. „Es fiel ihm ein, daß man seltsamerweise Toten Gestalt geben konnte, nicht aber Lebenden.“

Überblick über das gesamte „Wahrheitsministerium“

Das Kapitel gibt auch Einblicke in die Struktur und den Umfang des Wahrheitsministeriums. Es wird beschrieben, dass Winstons Abteilung nur ein kleiner Teil eines riesigen Apparats ist, der sich nicht nur mit der Geschichtsfälschung, sondern auch mit der Produktion und Verbreitung jeglicher Form von Nachrichten, Information und Unterhaltung für die Bevölkerung befasst. Es existieren sogar separate Abteilungen für die Proletarier, die minderwertige Inhalte produzieren.

Fazit

Insgesamt verdeutlicht das vierte Kapitel auf eindringliche Weise, wie die Kontrolle über die Vergangenheit ein entscheidendes Instrument zur Aufrechterhaltung der totalitären Herrschaft in „1984“ ist. Durch die systematische Fälschung von Aufzeichnungen und die Auslöschung unerwünschter Personen und Fakten schafft die Partei eine Realität, die ihren Interessen dient und jegliche Möglichkeit des kritischen Denkens oder der Erinnerung an eine andere Vergangenheit unterbindet. Die Arbeit Winstons ist somit nicht nur ein Akt der Geschichtsfälschung, sondern ein wesentlicher Bestandteil der psychologischen und ideologischen Kontrolle über die Bürger Ozeaniens.

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