Wolfgang Borchert, „Der Kuss“ – ein Liebesgedicht, das Widerspruch hervorrufen kann (Mat8714)

Worum es hier geht:

Vorgestellt wird ein Gedicht, in dem die emotionale Hochstimmung und zugleich Verwirrtheit einer Frau nach einem Kuss deutlich gemacht wird. Die Art und Weise, wie das geschieht, wirft allerdings Fragen auf. Vor allem vermisst man auch die andere Seite, die diese Emotionen ausgelöst haben. So hängen die für den Leser ziemlich in der Luft, was die Frau schwach und überfordert erscheinen lässt. Kritiker könnten hier eine überholte männliche Perspektive auf eine solche Situation sehen.

Gefunden haben wir das Gedicht hier:
https://gedichte.xbib.de/Borchert%2C+Wolfgang_gedicht_Der+Kuss.htm

Den Originaltext präsentieren wir in kursiver Schrift und durchnummeriert.

Unsere Anmerkungen sind eingerückt.

Zu Strophe 1

Wolfgang Borchert

Der Kuss

  1. Es regnet – doch sie merkt es kaum,
  2. weil noch ihr Herz vor Glück erzittert:
  3. Im Kuss versank die Welt im Traum.
  4. Ihr Kleid ist naß und ganz zerknittert
  • Die erste Strophe präsentiert die Situation und die Gefühle einer Frau,
  • die so beeindruckt ist von dem gerade erlebten Kuss,
  • dass sie nicht einmal merkt, dass sie vom Regen durchnässt wird.
  • Leserlenkung:
    Man ist gespannt, was in dem Gedicht aus der Situation gemacht wird.
  • Vor allem ist man gespannt darauf, ob der Kusspartner eine solche Situation verdient hat, also dieser Fast-Anbetung überhaupt würdig ist.
Zu Strophe 2
  1. und so verächtlich hochgeschoben,
  2. als wären ihre Knie für alle da.
  3. Ein Regentropfen, der zu Nichts zerstoben,
  4. der hat gesehn, was niemand sonst noch sah.
    • Die zweite Strophe beschäftigt sich dann mit der Frage, wie diese Frau auf andere wirken könnte. Dabei wird auf das nass gewordene Kleid Bezug genommen.
    • Das Wort „verächtlich“ macht hier einige Probleme. Möglicherweise ist damit eine ursprüngliche Bedeutung gemeint:
      Die Frau achtet nicht auf das in der Situation, was normalerweise beachtet werden müsste.
    • Die letzten zwei Zeilen sollen wohl auf möglichst originelle Art und Weise deutlich machen, was für eine außergewöhnliche Situation hier vorliegt.
    • Anmerkung: Man merkt, das Gedicht stammt aus einer Zeit, wo Frauen sich in der Öffentlichkeit nicht zu offenherzig zeigen durfte. Und was hier beschrieben wird, gehörte anscheinend bereits dazu.
    • Zu Strophe 3
  5. So tief hat sie noch nie gefühlt –
  6. so sinnlos selig müssen Tiere sein!
  7. Ihr Haar ist wie zu einem Heiligenschein zerwühlt
  8. Laternen spinnen sich drin ein.
  • In der letzten Strophe macht das lyrische Ich sich Gedanken, wie es um die Gefühle dieser Frau bestellt ist.
  • Auch hier geht die Tendenz in Richtung außergewöhnlich.
  • Seltsam bis abwegig dann der Vergleich der Seligkeit dieser Frau mit der von Tieren.
  • Das lyrische Ich wagt sich dabei zunächst einmal ziemlich weit vor in die Interpretation des Gefühlslebens von Tieren.
  • Außerdem dürfte das heute viele Frauen stören, wenn ihr Gefühlsleben in einer solchen Situation mit dem von Tieren verglichen wird.
  • Ausgedrückt werden sollte wohl, dass hier etwas Animalisches passiert, das sich dem Verstand und seinen Kontrollfunktionen entzieht.
  • Auch hier hätte man sich für ein bisschen Ausgewogenheit gewünscht, dass der Mann nicht nach dem erreichten Kuss zumindest aus der Perspektive des Gedichtes verschwindet, sondern auch bei ihm so etwas wie innere Bewegtheit gezeigt wird. Das ist die ganz große Schwachstelle dieses Gedichtes, weil man als Leser das Verhalten der Frau nicht wirklich einordnen kann.
  • Auf jeden Fall bleibt aber der Eindruck, dass dieses Gedicht sich viel vorgenommen hat und das auch ansatzweise erreicht.
  • Aber es bleibt an einigen Stellen ein schaler Beigeschmack, der zunächst bei „verächtlich“ schon auf eine etymologische Erklärung angewiesen iste.
  • Noch schlimmer ist es natürlich bei dem Frau-Tier-Vergleich. Der kann aus heutiger Sicht zumindest nur den Vorwurf einer gewissen Frauenfeindlichkeit auslösen. Die Formulierung ist einfach zu missverständlich.
Zusammenfassung:

Das größte Problem dieses Gedichtes ist seine Beschränktheit auf die Gefühle und das Verhalten der Frau. Ohne ein passendes Gegenstück wirft es ein schlechtes Licht auf Frauen, erweckt den Eindruck, dass ein Kuss ohne all das, was dazu gehört, sie schon in extreme Wallung geraten lässt.

Dieses Gedicht schreit geradezu nach Aktualisierung, gerne auch als Gegengedicht, wo eine starke Frau einem vor Freude schwach gewordenen Mann vielleicht wieder aufhilft.

Man kann natürlich auch ein Gedicht schreiben, das man – in der fiktiven welt der Literatur geht ja alles – dem Dichter in die männlichen Jagdgründe nachschickt.

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