Zum Roman „Der Vorleser“: Vergangenheit und Gegenwart in der Perspektive des Erzählers

Worum es hier geht:

Wir haben nach längerer Zeit mal wieder begonnen, Schlinks Roman „Der Vorleser“ zu lesen. Und wie es bei guter Literatur so ist, man entdeckt immer etwas Neues. Beim ersten Lesen ist man vorwiegend mit dem Inhalt beschäftigt. Später schaut man sich bestimmte Textstellen genauer an.

Und auf S. 17 der Diogenes-Taschenbuch-Ausgabe (wir nutzen die E-Book-Kindle-Variante) wird es richtig spannend.

 – Der Vorleser von Bernhard Schlink

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Wir präsentieren den Textausschnitt (in kursiver Schrift) und zeigen gleichzeitig eingerückt, worauf man bei genauem Wieder-Lesen kommen kann:

Ausgangssituation: Der Erzähler versucht, für sich zu klären, was ihn als 15jährigen Jungen bei dieser Hanna Schmitz so fasziniert hat.

  1. Jahre später kam ich drauf, dass ich nicht einfach um ihrer Gestalt, sondern um ihrer Haltungen und Bewegungen willen die Augen nicht von ihr hatte lassen können.
    • Hier wird deutlich, dass es sich hier um nachträgliche Erklärungen handelt.
    • Dabei ist sehr fraglich, ob der Erzähler hier wirklich einen damaligen Wahrnehmungsstand rekonstruiert oder nicht in Wirklichkeit versucht, ein Gesamtphänomen von Faszination zu begreifen.
  2. Ich bat meine Freundinnen, Strümpfe anzuziehen, aber ich mochte meine Bitte nicht erklären, das Rätsel der Begegnung zwischen Küche und Flur nicht erzählen.
    • Na ja, das ist natürlich ein sehr fragwürdiges Experiment und dürfte auch bei den Freundinnen einiges Stirnrunzeln ausgelöst haben.
  3. So kam meine Bitte als Wunsch nach Strapsen und Spitzen und erotischer Extravaganz an, und wenn sie erfüllt wurde, geschah es in koketter Pose.
    • Zumindest haben die Freundinnen ihn tiefer in das Verhältnis von Pose und Natürlichkeit eingeweiht.
  4. Das war es nicht, wovon ich meine Augen nicht hatte lassen können. Sie hatte nicht posiert, nicht kokettiert. Ich erinnere mich auch nicht, dass sie es sonst getan hätte. Ich erinnere mich, dass ihr Körper, ihre Haltungen und Bewegungen manchmal schwerfällig wirkten. Nicht dass sie so schwer gewesen wäre. Vielmehr schien sie sich in das Innere ihres Körpers zu-rückgezogen, diesen sich selbst und seinem eigenen, von keinem Befehl des Kopfs gestörten ruhigen Rhythmus überlassen und die äußere Welt vergessen zu haben.
    • Hier findet eine Art nachträgliche Verarbeitung statt.
    • Die dürfte sich kaum auf die ersten Begegnungen beziehen – denn da dürfte dieser 15jährige Junge viel zu aufgeregt gewesen sein, als dass er so komplizierte Wahrnehmungen überhaupt hätte aufnehmen und speichern können.
    • Schließlich wusste er am Anfang noch gar nicht, welche Bedeutung diese Frau für ihn später bekommen würde.
    • Es hätte auch ein einmaliges Erlebnis sein können – und so wird es wohl in dem Moment wahrgenommen worden sein.
  5. Dieselbe Weltvergessenheit lag in den Haltungen und Bewegungen, mit denen sie die Strümpfe anzog. Aber hier war sie nicht schwerfällig, sondern fließend, anmutig, verführerisch – Verführung, die nicht Busen und Po und Bein ist, sondern die Einladung, im Inneren des Körpers die Welt zu vergessen.
    • Allein schon der Begriff „Weltvergessenheit“ macht deutlich, dass hier ein Erwachsener Überlegungen anstellt, die viel Bildungswissen zeigen.
  6. Das wusste ich damals nicht – wenn ich es denn jetzt weiß und mir nicht nur zusammenreime.
    • Das ist die Stelle, die den Erzähler rettet – denn er gibt offen das zu, was ein aufmerksamer Leser wohl auch empfindet.
  7. Aber indem ich damals darüber nachdachte, was mich so erregt hatte, kehrte die Erregung wieder.
    • Dass hier die Gesamtheit seiner sexuellen Erlebnisse mit dieser Frau erneut Erregung auslösen, kann man nachvollziehen.
  8. Um das Rätsel zu lösen, rief ich mir die Begegnung in Erinnerung, und die Distanz, die ich mir geschaffen hatte, indem ich sie zum Rätsel gemacht hatte, löste sich auf.
    • Hier wird deutlich, dass Vergangenheit und Gegenwart wie bei jeder Erinnerung zusammenspielen.
    • Jeder erfahrene Richter weiß das zum Beispiel, wenn er eine Zeugenaussage bewertet.
    • Ein deutliches Signal für das sich Hinein-Fantasieren in eine vergangene Begebenheit wird ja durch den Hinweis auf die Auflösung der Distanz deutlich.
    • Die Behauptung des Erzählers, dass er diese Distanz geschaffen habe, indem er sie zum Rätsel gemacht habe, wirkt aber deutlich überhöht. Da schreibt er sich etwas zu, was in der Wirklichkeit wohl anders gelaufen ist:
      • Die Distanz war real da.
      • Aber es gab und gibt in ihm immer noch eine Faszination für diese Frau und seine Erlebnisse mit ihr.
      • Dadurch, dass er mit seinem Erwachsenen-Bewusstsein mit viel Bildungshintergrund an seine Erinnerung rangeht, löst sich das Rätsel.
      • Es bleibt natürlich eine nachträgliche Interpretationshypothese, was die Haltung der Frau und seinen Eindruck von ihr betrifft.
  9. Ich sah alles wieder vor mir und konnte wieder die Augen nicht davon lassen.“
    • Das ist genau seine Situation – sie ist aber eine Vermischung von erinnerter Vergangenheit und nachträglicher Verarbeitung.

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