Wer zeigt mehr Autonomie: Iphigenie oder Emilia Galotti?
- Stellen wir uns vor, im Unterricht (oder gar im mündlichen Abitur) taucht die Frage auf, ob Goethes Iphigenie oder Lessings Emilia Galotti eigentlich für mehr Autonomie steht.
- Gehen wir dann mal davon aus, dass man hier keine fertige Antwort im Kopf hat, sondern sie erst mal finden muss, während man natürlich gleichzeitig schon versucht, in eine Redefluss zu geraten.
- Also eine schöne Übung in Argumentation – deshalb zeigen wir hier, wie man zum Beispiel strukturiert antworten könnte:
Möglichkeit einer Antwort
- Interessante Frage. Zunächst mal könnte man sagen, dass beide am Ende ihrer eigenen Wahrheit folgen.
- Die von Iphigenie weist zumindest zum Teil in eine bessere Zukunft, nämlich der Wahrhaftigkeit, der Ehrlichkeit.
- Allerdings ist die Figur von Goethes Protagonistin so gestaltet, dass am Ende nur die Griechen gewinnen und der sogenannte Barbar Thoas die größere Leistung vollbringen muss, um zur klassischen schönen Seele zu werden.
- Er überwindet sich nämlich, verzichtet auf alles. Daran hat der gute Goethe wohl nicht gedacht, als er sein halb idealistisches Drama konzipiert.
- Was Emilia angeht, kann man kaum sagen, dass ihre Lösung am Ende kaum in die Zukunft verweist und heute als vorbildlich bezeichnet werden kann.
- Denn sie wählt ja den Freitod beziehungsweise lässt sich von ihrem Vater töten, um einer sittlichen Gefahr zu entgehen.
- Das sieht natürlich zunächst nach Autonomie aus, aber wenn man genauer hinschaut, ist sie in gewisser Weise ein Opfer der damaligen moralischen Vorstellungen.
- Das heißt nicht, dass sie sich jetzt einfach den Wünschen des Prinzen hätte hingeben sollen.
- Aber in Gegenwart ihres Vaters hätte es sicherlich noch andere Möglichkeiten geben können, zumindest hätten die beiden einen entsprechenden Versuch starten können.
- Immerhin hatte der Vater ja ein Messer dabei, das ihm eine andere, kluge Frau mitgegeben hatte.
- Auch vorher schon hätte es andere Möglichkeiten der „Emanzipation“ aus den dunklen Plänen des Prinzen gegeben. Die Familie hätte zum Beispiel zusammenbleiben und den Weg in die Freiheit gemeinsam erkämpfen können.
- Halten wir also fest:
- Emilia ist auf der einen Seite emanzipiert, weil sie am Ende das tut, was sie für richtig hält.
- Zugleich ist sie aber Opfer der damaligen Verhältnisse und in gewisser Weise natürlich auch das Autors.
- Lessing wollte einfach ein die Zuschauer beeindruckendes dramatisches und in diesem Falle tragisches Ende.
- Bei Iphigenie ist das etwas anders.
- Sie kämpft sich zu dem durch, was Goethe und Schiller für ein idealistisches Ideal angesehen haben, nämlich die Bereitschaft, zwischen Pflicht (die Wahrheit zu sagen) und Neigung (den Fluchtplan zu unterstützen) zu Gunsten des höher eingeschätzten moralischen Wertes ein volles Risiko einzugehen.
- Am Ende ist sie aber genauso wie Emilia ein Opfer ihres Autors, der ebenfalls nicht daran gedacht hat, eine Lösung zu finden, die auch die Interessen des Gegenübers versucht, mit einzubeziehen.
- Man könnte abschließend also feststellen:
- In beiden Fällen liegt eine gewisse Autonomie vor.
- Die besteht aber in der Bereitschaft, sich einem gewissen höheren Ideal zu beugen,
- das wie bei Lessing entweder in den Vorstellungen der Zeit liegt
- oder aber wie bei Goethe in den Vorstellungen der Weimarer Klassiker.
- So kann man Ende vielleicht die Dinge so auf den Punkt bringen: Eine gewisse Autonomie vielleicht, Emanzipation aber auf keinen Fall, denn die bedeutet, sich aus den Händen eines anderen zu befreien:
- Bei Iphigenie hätte das Iphigenie machen können, indem sie als Figur im Kopf des Dichters ein Eigenleben entfaltet hätte. Das ist ja das eigentliche Ziel der kreativen Fiktionalität: Nämlich auf dem poetischen Spielfeld mehr zu bieten als der Planer sich ausgedacht hat.
- Bei Emilia wird das etwas schwieriger – denn die ist so sehr in den patriarchalisch-moralischen Vorstellungen der Zeit gefangen, dass die Emanzipation wohl nur mit Hilfe ihrer Familie möglich gewesen wäre – aber die versagt vollkommen. Damit sind wir bei dem Punkt, dass Lessing sich wohl stärker hätte von seinen Plänen emanzipieren müssen.
Auf jeden Fall sind beide Werke und ihre Hauptfiguren schöne Beispiele dafür, wie auch große Dichter ihren Figuren zu wenig Spielraum geben können und im Plan der eigenen literarischen Zielvorstellungen gefangen bleiben.
Anregung:
Das Thema Emanzipation bzw. Bemühen um Autonomie dürfte vor allem junge Menschen stark interessieren.
Auch Büchners „Woyzeck“ hätte es verdient, der Figur der Marie etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Wir hätten uns gewünscht, dass Büchner sie zumindest auf die gleiche Ebene gehoben hätte wie ihren kranken Partner. Aber das kann man ja vielleicht in einem kreativen Deutschunterricht nachholen, indem man sich hier noch ein, zwei Szenen einfallen lässt, zu denen Büchner in seinem Fragment nicht mehr gekommen ist.
Näheres zu Marie als der eigentlich interessanten Figur des Stücks:
https://schnell-durchblicken.de/buechner-woyzeck-marie-und-die-frage-der-emanzipation
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Vorschläge der KI für Ergänzungen
Es ist immer interessant, das, was MIA (menschliche Intelligenz in Aktion) sich ausgedacht hat, durch die KI checken zu lassen. Dabei können sich interessante Hinweise ergeben. In diesem Falle hat ChatGPT Folgendes vorgeschlagen (in kursiver Schrift)
Die Einschätzung auf der verlinkten Seite erscheint insgesamt schlüssig, differenziert und literaturhistorisch fundiert. Sie hebt zentrale Aspekte der Figurenanalyse hervor und berücksichtigt sowohl die Handlungen der Figuren als auch die gesellschaftlichen und literarischen Kontexte. Dennoch gibt es einige Punkte, die man vertiefen oder ergänzen könnte, um die Argumentation abzurunden:
1. Rollenkonflikte und Geschlechterrollen
- Während die gesellschaftlichen Zwänge Emilias klar thematisiert werden, könnte bei Iphigenie stärker betont werden, wie sie als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft agiert. Ihre Wahrhaftigkeit und ihr Streben nach einem „höheren Ideal“ können auch als Strategie interpretiert werden, in einer männerdominierten Welt moralische Überlegenheit zu demonstrieren.
2. Kritik an der „begrenzten“ Emanzipation
- Die Seite argumentiert, dass sowohl Iphigenies als auch Emilias Emanzipation unvollständig ist, da sie sich höheren Idealen oder moralischen Normen unterwerfen. Man könnte aber fragen: Muss Emanzipation zwingend in einem Bruch mit bestehenden Systemen bestehen? Ist nicht auch der bewusste Verzicht auf eine radikale Rebellion eine Form von Autonomie?
3. Psychologische Dimensionen
- Besonders bei Emilia Galotti fehlt die detaillierte Betrachtung ihrer emotionalen und psychologischen Entwicklung. Ihr Freitod ist nicht nur Ausdruck eines moralischen Zwanges, sondern auch einer tiefen Verzweiflung und Ohnmacht. Dieser Aspekt könnte weiter untersucht werden, um ihre Handlungsweise besser zu verstehen.
4. Iphigenie: Stärke oder Naivität?
- Die Interpretation von Iphigenies Entscheidung als wahrhaftig und zukunftsweisend ist interessant, könnte aber kritisch hinterfragt werden. Ist ihre Wahrhaftigkeit tatsächlich ein autonomer Akt, oder wird sie durch ihre religiöse und moralische Erziehung geprägt, sodass sie kaum anders handeln kann?
5. Vergleich: Autonomie der Gegenspieler
- Die Argumentation über König Thoas als „größere Leistung“ ist relevant, aber es fehlt ein ähnlicher Blick auf die Gegenspieler Emilias, z. B. Marinelli oder ihren Vater Odoardo. Diese Figuren könnten hinsichtlich ihrer eigenen Autonomie oder moralischen Konflikte ebenfalls beleuchtet werden, um Emilias Handlungen in Relation zu setzen.
Fazit
Die Einschätzung auf der Seite ist gut begründet, lässt aber Raum für Ergänzungen, insbesondere bei der psychologischen Tiefe der Figuren und einer breiteren Diskussion von Emanzipationskonzepten. Besonders die unterschiedlichen Formen von Autonomie (individuell, gesellschaftlich, moralisch) könnten stärker gegeneinander abgewogen werden, um die Komplexität der Figuren vollständig zu erfassen.
Nachfrage bei ChatGPT wegen Marie
Auf Marie ist die KI erst mal nicht eingegangen. Eine Nachfrage hat dann die folgenden interessanten Hinweise erbracht (in kursiver Schrift):
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Sammlung von Infos, Tipps und Materialien zu Goethes „Iphigenie auf Tauris“
https://schnell-durchblicken.de/goethe-iphigenie-auf-tauris-infos-tipps-und-materialien-themenseite
— - Infos, Tipps und Materialien zu Emilia Galotti
https://schnell-durchblicken.de/lessing-emilia-galotti-themenseite
— - Infos, Tipps und Materialien zu Büchners „Woyzeck“
https://textaussage.de/woyzeck-themenseite
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos